Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)
hier nicht mehr. Sie sollen in die Werkstatt fahren, einer kann sich um die Büroarbeit und das Bestellen der Farben und Werkzeuge für den nächsten Auftrag kümmern, der andere sich vor Ort umsehen“, wies er an. „Das bisschen hier schaffen Sie allein, zur Not haben Sie den Praktikanten, der will sicher noch etwas dazulernen.“
Gleichmütig begab sich Gottlieb vor das Kirchenportal, wo die beiden Gesellen rauchend mit René herumblödelten. Der Altgeselle steckte sich ebenfalls eine Zigarette an, dann teilte er seinen Kollegen die Anweisungen des Chefs mit.
„Na, euch noch viel Spaß hier“, verabschiedeten die sich, als sie aufgeraucht hatten. Dass sie zumindest für heute den argwöhnischen Augen des Chefs entkommen konnten, schien ihnen zu gefallen.
Mit dem Praktikanten im Schlepptau kehrte Gottlieb in die Kirche zurück. Von weitem sahen sie Altmühl, angestrahlt von einem der Scheinwerfer, mit einem Pinsel in der erhobenen Hand auf der Leiter stehen. Als sie näher herankamen, stand der Restaurator noch immer unbeweglich und starr da wie die holzgeschnitzten Apostelfiguren, die die Säulen zur Empore schmückten.
„Was hat er denn nun schon wieder?“, flüsterte der Altgeselle dem Praktikanten zu. „Wenn er ein neues Wehwehchen pflegt, werden wir mit dem Altarbild nicht pünktlich fertig. Mich würde er selbst dann nicht an den Jesus heranlassen, wenn er beide Arme in Gips hätte. Na, wir werden es gleich erfahren, was ihn diesmal plagt.“
Doch der Restaurator machte keinerlei Anstalten, dem Mitarbeiter, der unten an der Leiter stand und zu ihm hinaufschaute, an seinem Leiden teilhaben zu lassen. Wie einst Lots Frau stand er zur Salzsäule erstarrt, den Blick fassungslos auf den in einer Wolke zum Himmel auffahrenden Jesus gerichtet. Es konnte doch nicht sein, dass der Herr plötzlich zwei Gesichter hatte!
Felix schloss die Augen, öffnete sie wieder, doch die Erscheinung blieb: Aus dem weißen Gewand mit dem blauen Umhang reckten sich, leicht ineinander übergehend, zwei Köpfe.
Spuk oder Halluzination? Beide Varianten gefielen ihm nicht sonderlich. Altmühls Atem ging heftig, er begann zu schwitzen. Vergeblich versuchte seine Hand, die den Pinsel hielt, ihr Ziel zu erreichen. Er kniff die Augen zu einem Schlitz zusammen. Die beiden Gesichter verschwammen zu einem, doch als er der Leinwand näher kam, teilte es sich erneut.
Nach einigen vergeblichen Versuchen gab er es auf. Unmöglich, die matten Stellen in den langen Locken des Gottessohnes auszubessern. Er zwinkerte und zwinkerte, es half nichts. Die Erscheinung blieb.
Felix verspürte Höllenqualen, als er, nachdem er die Augen minutenlag geschlossen hatte, einen verstohlenen Blick auf den Jesus warf. Als der sich ihm noch immer mit zwei Köpfen zeigte, ließ der Restaurator den Pinsel fallen und klammerte sich mit beiden Händen an den Sprossen der Leiter fest. Hatte ihm der Terpentingeruch die Sinne vernebelt oder wurde er gar verrückt? Er fühlte Herz und Puls rasen.
„Herr Altmühl, was haben Sie? Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte der Altgeselle, nun doch ein wenig erschrocken über das bleiche, schweißüberströmte Gesicht des Chefs. Deshalb verkniff er sich dem Praktikanten gegenüber jedes weitere Lästern. Schließlich war der Restaurator nicht mehr der Jüngste und bei seiner Statur wohl tatsächlich Herz- oder Schlaganfall gefährdet. Vielleicht war ihm auch nur sein selbstverordneter Tablettencocktail nicht bekommen. Wer konnte das schon wissen?
Langsam wie ein uralter Mann stieg Felix die Leiter herab und stützte sich, unten angekommen, auf den Altgesellen, der ihn zu einer der Holzbänke führte.
„Sagen Sie mir, Gottlieb, ob Ihnen an dem Himmelfahrtsmotiv irgendetwas seltsam vorkommt?“, bat er den Angestellten mit stockender Stimme.
Der sah den Altar hinauf, betrachtete das Triptychon sehr eingehend und schüttelte dann verwundert den Kopf.
„Ich wüsste nicht, was. Bis auf die paar Pinselstriche, die an der Jesus-Gestalt noch zu machen sind, ist das Altarbild komplett. Wenn Sie heute fertig werden, kann ich morgen den letzten Teil versiegeln, danach steht der Übergabe an die Gemeinde nichts mehr im Weg. Ist doch prima geworden, meinen Sie nicht, Chef?“
Altmühl schwieg. Was sollte er auch sagen? Wenn dem Mitarbeiter nichts auffiel, was für ein Trugbild hatte ihn dann auf der Leiter genarrt? Er erhob sich und trat ganz nah an den Altar heran.
Er musste dem Altgesellen zustimmen: Das dreiteilige Bild war
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