Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)
ein Meisterwerk geworden. Besser hätte es auch vom Künstler frisch gemalt nicht aussehen können. Die Farben, auf die das durch das Fenster hereinscheinende Sonnenlicht fiel, strahlten, und das Schattenspiel der Bäume ließ die dargestellten Figuren fast lebendig erscheinen. Die Mühe hatte sich gelohnt.
Felix atmete tief durch. Herz und Puls beruhigten sich. Von hier unten sah tatsächlich alles ganz normal aus. Wahrscheinlich hatten ihm seine überanstrengten Augen einen Streich gespielt. Er nahm sich vor, die Symptome unbedingt am Abend in seinem Gesundheitslexikon nachzuschlagen. Mit allem, was den Kopf betraf, war schließlich nicht zu spaßen.
Bevor er letzte Hand an das Auftragswerk legte, ging er hinaus ins Freie und unternahm einen kleinen Spaziergang auf dem Kirchhof, an dessen Mauern sich an drei Seiten Grabstätten aneinanderreihten. Sie mussten sehr alt sein. Felix Künstleraugen begutachteten die trauernden Engel mit Palmzweigen in den Händen und andere Statuen, an denen der Zahn der Zeit genagt hatte. Erst als ihm dabei die Vergänglichkeit alles Irdischen zu Bewusstsein kam, wendete er sich schnell ab. Damit wollte er sich augenblicklich lieber nicht befassen.
Heimgekehrt in die inzwischen gesäuberten und aufgeräumten Räume seiner Wohnung, griff Felix Altmühl, kaum dass er sich seiner Arbeitskleidung entledigt hatte, nach dem Gesundheitslexikon und schlug zum Thema Augenkrankheiten nach.
In die Kissen des bequemen Sofas im Wohnzimmer gelehnt, betrachtete er mit Abscheu die farbigen Abbildungen von siechenden Augen. Eine Gänsehaut überlief ihn. Am liebsten hätte er das Buch sofort wieder zugeklappt und zurück ins Regal gestellt, doch bekämpfte er das Verlangen heldenhaft. Er musste wissen, was mit ihm los war.
Er blätterte, bis er gefunden hatte, was er suchte: Doppelsichtigkeit. Das musste es gewesen sein, was ihm heute vor dem Altarbild widerfahren war. Ohne abzusetzen las er den mehrere Seiten umfassenden Teil in einem Zug durch. Als er damit fertig und nun über die umfangreichen Möglichkeiten der Ursache des Doppelsehens informiert war, fühlte er sich richtig schlecht.
Misstrauisch horchte er in sich hinein. Welche Krankheit mochte er ausbrüten? Borreliose durch Zeckenbiss und Gürtelrose schloss er aus, dafür hätte es Anzeichen an seinem Körper gegeben. Und den prüfte er fast täglich auf Unregelmäßigkeiten.
Blieben ein Hirntumor, Schlaganfall oder multiple Sklerose übrig. Keine besonders erfreuliche Auswahl. Felix stöhnte auf, als er sich in die Verläufe dieser Krankheiten einlas.
Resigniert legte er schließlich das Lexikon zur Seite. Es war Abendbrotzeit, aber ihm war jeglicher Appetit vergangen. Selbst ein schönes, heißes Wannenbad für seinen Rücken reizte ihn nicht.
Um sich abzulenken griff er nach den Fachzeitschriften. Fast eine Stunde las er Artikel über neue Konservierungstechniken von Kunstwerken. Obwohl es langsam zu dämmern begann, taten die Augen ihre Pflicht. Als ihm der Magen zu knurren begann, marschierte Felix in die Küche, schmierte sich ein Brot und aß eine Büchse Thunfisch dazu.
Der befriedigte Magen versetzte ihn in eine bessere Stimmung. Vielleicht hatte er sich ja geirrt, und das mit den Augen war gar nicht so bedrohlich, wie er gelesen hatte. Auf jeden Fall würde er noch mehr als bisher auf die Signale achten, die sein Körper aussendete.
Zurück im Wohnzimmer, fiel sein Blick auf das Bild von ihm und Maria. Die lag nun schon viele Jahre unter der Erde. Nach ihr, mit der er bis zur Silberhochzeit eine mehr oder wenige glückliche Ehe geführt hatte, hatte er keine andere mehr an seiner Seite geduldet. Er war nach und nach zum Einsiedlerkrebs geworden, mit der Verwandtschaft zerstritten und ohne echte Freunde.
„Ach, Maria“, seufzte der einsame Mann, „du hast mich geliebt, wie ich war. Es wäre jedoch schön, wieder jemanden zu haben, mit dem man reden kann, der die kleinen Freuden des Lebens mit einem teilt. Dagegen kannst du doch sicher nichts haben.“
Seit einiger Zeit dachte er an eine ganz bestimmte Person, aber darüber wollte er mit Maria jetzt noch nicht sprechen. Erst wenn er sich sicher war, dass er derjenigen vertrauen konnte und sicher war, dass sie ebenfalls etwas für ihn empfand und nicht nur sein Geld wollte, würde er das tun. Aber das brauchte Zeit.
Entschlossen, doch noch etwas für seinen Rücken zu tun, begab er sich ins Bad, ließ Wasser in die Wanne ein und goss reichlich von dem Rheuma-Wohl
Weitere Kostenlose Bücher