Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)
wählte.
„Kümmere dich um Jack“, sagte er in den Hörer. „Er darf nicht auf den Gedanken kommen, sich plötzlich für den Club zu interessieren.“
Dann legte er auf.
Jack rief sich ein Taxi und wollte in sein Apartment fahren, als sein Handy klingelte.
„Wer stört?“, fragte er ungehalten in den Hörer.
„Ich, Josephine. Ich hoffe, du erinnerst dich an mich. Wir sind uns neulich in deinem Apartment und vorhin im ‚Pour Elles‘ begegnet“, schnurrte sie.
„Aber natürlich.“ Seine Miene hellte sich ein wenig auf. „Bist du auf der Party?“
„Wo sonst? Und ich dachte gerade, dass du vielleicht Lust hast, ebenfalls herzukommen. Es gibt definitiv zu wenige attraktive Männer hier. Ich weiß gar nicht, mit wem ich flirten soll.“
Jack überlegte einen Moment. „Diesen Zustand sollte ein Gentleman wie ich sofort beheben. Es kann doch nicht sein, dass eine hübsche junge Frau niemanden zum Flirten findet!“
„Das finde ich auch.“
Sie nannte ihm die Adresse, wo die Party stattfand, dann legte sie auf.
Jack teilte dem Taxifahrer das neue Ziel mit und ließ sich zu der Location mitten in Berlins Zentrum bringen.
Als er das Taxi verließ, klingelte sein Handy erneut. Es war Lori.
Er zögerte, den Anruf anzunehmen. Er hatte sie seit einigen Tagen nicht mehr gesprochen, auf ihre Bitten um Rückruf nicht reagiert. Er wusste nicht, wie er ihr klarmachen sollte, dass er die längste Zeit Hochleistungssportler gewesen war. Er wollte die Enttäuschung in ihrem Gesicht nicht sehen, die Verachtung für ihn und seinen lädierten Körper nicht spüren.
Er drückte den Anruf erneut weg. Morgen würde er sie anrufen. Morgen.
Schon am Eingang des Clubs hörte er Musik und Stimmengewirr. Er nannte dem Türsteher seinen Namen und wurde sofort eingelassen. Doch kaum war er über die Schwelle getreten, stockte sein Schritt.
II
Myrtel sah aus dem Fenster ihrer Wohnung. Über den Dächern von Berlin ging gerade eine tiefrote Sonne auf und färbte das grauweiße Band zarter Wölkchen, das den Himmel bedeckte, in einem seltsam intensiven purpurfarbenen Ton. Es sah fast so aus als ob der Horizont brannte. Doch kam der Frühaufsteherin das nicht im Geringsten bedrohlich vor. Sie riss das Fenster auf und sog mit tiefen Atemzügen die Morgenluft ein, die noch frisch und rein war und kaum nach Abgasen roch. Sie schloss für ein paar Minuten die Augen und gab sich ganz der Schönheit des beginnenden Tages hin, dann schloss sie die Flügel und begab sich ins Bad.
Ein Blick in den Spiegel bestätigte Myrtel den Eindruck von sich selbst. Aus dem Glas schaute ihr nicht wie sonst ein verquollenes Gesicht mit wirrem Haar und kleinen, gläsern schimmernden Augen entgegen. Sie hatte gut geschlafen und fühlte sich so fit wie lange nicht mehr – und das sah man. Heute würde sie sich nicht besonders anstrengen müssen, um die Spuren von zu viel Alkohol und einer durchgrübelten Nacht zu kaschieren.
War es möglich, dass ein einziges Erlebnis solch eine Besserung ihres Gemütszustands hervorrufen konnte?
Ja, sagte sie sich. So musste es wohl gewesen sein. Das Gespräch mit Kiara Jonas, von der sie zu einem Drink in eine kleine, verschwiegene Bar eingeladen worden war, hatte schlichtweg ein kleines Wunder bewirkt. Das spürte sie noch jetzt. Deren Zuspruch und die Aufforderung, Myrtel solle den Rest ihres Lebens genießen, ohne sich darum zu sorgen, was die Leute denken würden, war auf fruchtbaren Boden gefallen und hatte einen positiven Schub ausgelöst.
Gutgelaunt trat Myrtel unter die Dusche und drehte das Wasser auf.
Es tat unendlich gut zu wissen, dass im Club eine Freundin wartete, der sie sich jederzeit mit all ihren Ängsten anvertrauen konnte. Am Abend war sie erstmals seit Dieters Auszug ohne das übliche Quantum Rotwein zu Bett gegangen und ohne quälende Gedanken über ihre Krankheit, das Grauen vor dem Alleinsein und das unvermeidliche Ende eingeschlafen.
Während sie sich abtrocknete, überlegte Myrtel, was sie anziehen sollte. Zwar würde sie im Club in die vorgeschriebene Dienstkleidung schlüpfen müssen, aber wer konnte vorhersagen, ob nicht nach Feierabend ein unverhofftes Date auf sie wartete. Alles war möglich. Und sie bereit, sich darauf einzulassen.
Unternehmungslustig lief sie zum Kleiderschrank und begutachtete ihre Garderobe. Sie wählte ein lindgrünes Kostüm, das ihr rotbraunes Haar und die Farbe ihrer Augen vorteilhaft zur Geltung brachte.
Ich muss unbedingt zur Kosmetik
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