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Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)

Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)

Titel: Tempel der Träume - Der Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Marthens
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mancher vermutet.
    Ein behindertes Kind, wie schrecklich! – Dieser Satz hatte die junge Mutter vor Jahren unerbittlich verfolgt, als sich herausstellte, dass etwas mit dem kleinen Torben nicht in Ordnung war. Er war in sich gekehrt gewesen, hatte nur unter großen Mühen sprechen gelernt und andere Kinder gemieden. Neugier und Mitleid, mehr hatte die Umwelt für sie und ihren Sohn nicht übrig gehabt. Yvonne seufzte bitter auf. Ihr Lebensgefährte hatte schleunigst die Flucht ergriffen, als der Kinderarzt die Diagnose bestätigte: Torben war Autist.
    Dabei gab es schlimmere Schicksale. Daran hielt sich Yvonne aufrecht. Wenn sie ihr Leben mit dem anderer Eltern von behinderten Kindern verglich, durfte sie sich nicht beklagen. Ihr Sohn war von normalem Wuchs, hatte dunkelbraunes, ein wenig störrisches Haar und ein hübsches Gesicht, zu dem nur die ernst und oft leer blickenden Augen nicht recht passen wollten. Er blieb ein Einzelgänger, der nur wenige Menschen an sich heranließ. Doch die Mama und die Oma liebte er aus ganzem Herzen. Deshalb gelang es den beiden Frauen auch, ihren Liebling in die richtige Richtung zu lenken, wenn es nötig wurde.
    Während Yvonne in der Küche hantierte und dabei hin und wieder einen Blick durch das Fenster der Durchreiche zum Wohnzimmer warf, um Torben zu beobachten, versuchte sie die aufsteigenden Sorgen zu verdrängen.
    Sie konnte es sich eigentlich nicht leisten, der Arbeit auch nur einen Tag fernzubleiben. Gewiss würde man sie deshalb nicht gleich rausschmeißen. Es kam selten genug vor, dass sie auch nur einen Tage fehlte – und ihre einfühlsame, fast mütterliche Art war bei den Kunden beliebt. Doch war die Entlohnung für die Alleinerziehende kaum ausreichend, so dass sie auf die guten Trinkgelder angewiesen war, die das elitäre Publikum des „Pour Elles“ zahlte. Besonders Patienten, die ohne Rezept kamen und Sonderbehandlungen erwarteten, zeigten sich meist großzügig. Yvonne hatte die dreistellige Summe fest in ihr Haushaltsbudget eingeplant und sich eine stille Reserve für den Notfall zurückgelegt. Sie wurde nicht jünger. Mit Schrecken dachte sie daran, was aus dem Jungen werden würde, wenn sie einmal nicht mehr für ihn sorgen konnte. Außer ihrer, mit Mitte Siebzig erstaunlich rüstigen, Mutter besaß sie keine näheren Verwandten. Von Torstens Erzeuger hatte sie seit Jahren nichts mehr gehört. Der arbeitete auf einer Ölplattform in der Nordsee und zeigte keinerlei Interesse daran, wie es seinem Sohn ging.
    Yvonne konzentrierte sich auf das Schälen einiger großer Kartoffeln. Es würde Reibekuchen mit Apfelmus zum Abendbrot geben, die mochte ihr Sohn besonders gern, aber nur, wenn sie sie aus frischen Zutaten zubereitete.
    „Mama, komm und schau mal, das Bild ist fertig!“, riss Torbens Stimme sie aus ihren trüben Gedanken.
    „Ich komme sofort, mein Liebling“, antwortete Yvonne, während eine warme Welle in ihrem Körper aufstieg und die Sorgen fortspülte. So schlimm war es doch alles gar nicht, brach sich ihr unerschütterlicher Optimismus Bahn. Auch wenn er sich seiner Umwelt nicht so mitteilen konnte, wie die meisten Menschen es taten, war Torben doch weder geistig zurückgeblieben noch hatte er eine schwerwiegende körperliche Behinderung, die den Umgang mit ihm erschwerten. Im Gegenteil hatten ihm die Ärzte eine hohe Intelligenz und Talente besonders auf künstlerischem Gebiet bescheinigt. Und – das erleichterte die Mutter ungemein – man sah ihm, wenn sie zusammen spazieren gingen, das Anderssein nicht auf den ersten Blick an wie Kindern mit Down-Syndrom oder einer spastischen Lähmung. Zwar würde er nicht für sie sorgen können, wenn sie einmal alt und pflegebedürftig war, aber er konnte trotzdem später einmal ohne sie zurechtkommen. Das hatten ihr die Ärzte versichert. Darauf wurde Torben ganz allmählich mit seiner Tätigkeit in der Kreativwerkstatt vorbereitet. Gegenwärtig bekam er zwar nur ein Taschengeld, dafür musste sie keinen Beitrag für Unterbringung, Betreuung und Verköstigung bezahlen.
    „Schön hast du das gemacht“, lobte Yvonne, die sich mit einem Handtuch die nassen Finger abgetrocknet hatte, ins Wohnzimmer zurückgekehrt war und nun vor dem Puzzle stand, das fast den ganzen Couchtisch einnahm. „Ganz toll, mein Großer!“
    Sie verkniff sich rasch einen Anflug von Rührung, als sie den Schein von Glück und Zufriedenheit in seinen Augen wahrnahm. ‚Gehen Sie so natürlich wie möglich mit ihm um. Kein

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