Tempel der Träume - Der Roman (German Edition)
falsches Mitleid oder unangebrachte Rücksichtnahme‘, hörte sie den Therapeuten sagen. ‚Wenn sich das Kind so normal wie möglich entwickeln soll, müssen sie es auch so behandeln, sonst erziehen Sie sich einen Egoisten, der nie selbständig sein wird.‘ Da war Torben noch keine drei Jahre alt gewesen. Sie hatte sich daran gehalten, auch wenn es ihr manches Mal schwergefallen war. Doch mit ihrer Beherrschtheit hatte sie gute Erfolge erzielt. Daran hielt sie sich auch jetzt.
„So und nun muss Mama zurück in die Küche, damit die Reibekuchen fertig werden. Du kannst schon die Teller aus dem Schrank nehmen und den Tisch decken“, schlug sie vor, als sie bemerkte, dass Torben unruhig zu werden begann. „Aber erst ziehst du dir einen Bademantel über, damit dir nicht kalt wird.“
Torben sah sie an und nickte bedächtig. „Oh, ja erst den Bademantel, dann die Teller. Ich mag Reibekuchen!“
Mit einem Lächeln verschwand Yvonne erneut in der Küche. Während sie die Kartoffeln rieb, die Pfanne auf den Herd setzte und Öl hineingoss, hörte sie Teller und Geschirr klappern. Torben nahm seine Aufgabe sehr ernst.
Mit einem Mal fühlte sie sich wieder gut. Es war wie bei ihren Patienten: Wenn die daran glaubten, dass eine Therapie ihnen helfen würde, war das schon der halbe Erfolg. Sie selbst vertraute ebenfalls darauf. Dass es klappte, sah sie ja tagtäglich bei ihrem Sohn.
Eigentlich ist das Leben doch schön, dachte Yvonne, während sie ein kleines Stückchen von dem ersten Reibekuchen kostete, der lecker aus der Pfanne duftete.
VIII
Der Ruf ging raus, also hatte Dieter sein Handy eingeschaltet. Myrtel atmete erleichtert auf und wartete mit hoffnungsvollem Herzen, dass er abnahm. Die Sekunden, in denen sich das monotone Geräusch des Anklingelns wiederholte, kamen ihr unendlich lang vor. Warum meldete er sich nicht? Auf die Mailbox, die gleich anspringen würde, konnte sie nicht sprechen. Alles was Dieter wissen sollte, konnte sie ihm nur sagen, wenn er persönlich am Apparat war.
„Ja, hier Dieter Ragewitz“, ertönte nach einer gefühlten Ewigkeit die vertraute Stimme an ihrem Ohr. Sie klang nüchtern und gleichgültig. Er hatte wohl nicht auf das Display geschaut, um zu erfahren, wer ihn anrief.
Myrtel wurden die Knie weich. Sie ließ sich auf den nächstbesten Stuhl sinken.
„Ragewitz, wer spricht?“ Das klang bereits ungeduldig.
Myrtel riss sich zusammen.
„Ich bin es, Myrtel“, flüsterte sie.
„Ja? Was willst du?“
„Mit dir reden.“
„Ich dachte, wir hätten uns alles gesagt.“ Seine Stimme klang um keinen Deut freundlicher. Myrtel fühlte, wie sich Kälte vom Herzen her über ihren ganzen Körper ausbreitete. Da fiel ihr ein, was Susi über die Männer und ihren Mangel daran, sich entschuldigen zu können, gesagt hatte. Hing jetzt alles von ihr ab? Sie schluckte. Sie würde ihm eine Brücke bauen. Hauptsache, er kam zu ihr zurück.
„Dieter, ich weiß, ich habe dir viel Bitteres an den Kopf geworfen. Das tut mir leid. Mir ging es nicht gut, der Schock über die Krebsdiagnose saß einfach zu tief, aber inzwischen habe ich mich abgefunden. Wenn du mir nur ein bisschen hilfst, werde ich kämpfen und das Kommende überstehen. So oder so“, gab sie sich gefasst, um ihn nicht zu verprellen.
Es herrschte Schweigen. Wenigstens hatte er nicht gleich aufgelegt. Das ließ sie Hoffnung schöpfen.
„Dieter? Ich weiß, dass das alles für dich nicht einfach ist, dass du Abstand brauchtest. Deshalb nehme ich dir auch nicht übel, dass du zu einer anderen gezogen bist, um dich abzulenken ...“
Myrtel zermarterte sich den Kopf, was sie ihm noch sagen sollte. Wenn er ihr jetzt wenigstens ein kleines bisschen entgegenkommen würde. Ein freundliches Wort von ihm und sie würde es schaffen, ihn zurückzuholen in ihre gemeinsame Wohnung. In ihr Leben.
„Myrtel, ich ...“
„Du brauchst nichts weiter zu sagen. Keine Entschuldigung oder so. Ich bin dir doch nicht böse. Zweiundzwanzig Jahre haben wir zusammengehalten. In guten wie in schlechten Tagen. Keiner kennt dich so gut wie ich. Es kann wieder so sein, wie es war. Erinnerst du dich an unsere gemeinsamen Nächte? An deine Vorliebe für mein rotbraunes Haar ...“
Wenn die Frau, die so verzweifelt um ihren Mann kämpfte, gesehen hätte, was sich am anderen Ende der Leitung abspielte, sie hätte kein einziges Wort mehr herausgebracht.
Während Dieter Ragewitz nämlich betreten dem Appell seiner Frau lauschte und es nicht
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