Tempel der Unsterblichen
jedenfalls schienen ihnen nicht das geringste anhaben zu können, und so blieben sie ewig zeitlos und unbegreiflich für ihre sterblichen Untertanen .
Tikal setzte sich wieder in Bewegung. Dabei wurde ihm bewußt, wie verzweifelt und hoffnungsarm ein Mensch wirklich sein mußte, um es zu riskieren, den Zorn der Tyrannen auf sich zu laden.
Aber er verdrängte Einsichten dieser Art. Das hohe Gras streifte seine Hände. Aber er kam, obwohl er ein wenig hinkte, gut voran. Dabei hielt er nicht nur die Landschaft, sondern auch den hohen Himmel im Auge. Auch von dort drohte Gefahr - vielleicht die ärgste überhaupt .
Niemand schien auf ihn zu achten. Auch nicht die Bauern, die im nahegelegenen Weiler, außerhalb der Stadt, lebten.
Trotzdem fing Tikal an, schneller zu laufen. Aus einem Baum erhob sich ein Schwarm kleinerer Vögel, die er aufgeschreckt hatte. Die nächtliche Sonne hatte ihren Zenit überschritten.
Tikal biß sich auf die Unterlippe. Plötzlich war er drauf und dran, wieder umzukehren - sich zu stellen. Doch dann kehrten die Erinne-rungen zurück: seine Eltern, Becan, Viejo . Die Bilder drängten ihn zu noch größerer Eile, und noch verzweifelter hastete er auf den gewaltigen Erdwall zu, der seine Welt wie in einer erdrückenden Umarmung umschloß.
Irgendwann kam Tikal dort an und hetzte den Steilhang nach oben, auf Händen und Füßen wie ein Tier. Die Verletzung behinderte ihn kaum noch, weil er sich gar nicht gestattete, daran zu denken und auch sonst jeden überflüssigen Gedanken ausschaltete.
Was ihn dort oben, auf dem Scheitelpunkt des Walls, erwarten würde, vermochte er nicht zu sagen - nicht einmal ungefähr. Falls andere Menschen je über diesen Punkt hinweg gesehen hatten, dann behielten sie ihr Wissen aus Angst vor Strafe für sich. Sie wären auch lebensmüde Narren gewesen, wären sie damit hausieren gegangen.
Ohne ein einziges Mal zurückzublicken, erstieg Tikal den Wall, dessen Erbauer niemand mehr kannte. Vielleicht hatten ihn die Tyrannen selbst dereinst errichtet, wahrscheinlicher aber eine Generation, die an dieser Anstrengung zugrunde gegangen war .
Tikal verlor jedes Zeitgefühl. Der Aufstieg kostete ihn seine ganze Kraft, und als er dann endlich den Gipfel erreicht hatte, ließ er sich einfach niedersinken.
Dunkle Nebel waberten vor seinem Blick, groteske Ausgeburten seines strapazierten Verstandes. Eine Weile war er nicht einmal imstande, den Kopf zu heben, um sich umzuschauen und zu ergründen, wie es denn nun jenseits der ihm vertrauten Welt aussah.
Dann aber erwartete ihn ein unbeschreiblicher Schock.
Hinter ihm erstreckte sich immer noch die Landschaft, die er von klein auf kannte, aber vor ihm ... vor ihm hörte einfach alles auf?
Tikal fand keine Worte für das, was seine Augen quälte, sobald er geradeaus blickte und den Versuch unternahm, eine Vorstellung von dem zu gewinnen, was sich auf der anderen Seite des Walls erstreckte. Es war, als würden seine Blicke völlig verdreht, verbogen und entstellt in seinen Kopf zurückgeschleudert. Es war grauenvoll!
Auf die Ellbogen aufgestützt lag er da und kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. Es änderte nichts. Was durch die schmalen Spalten Einlaß in sein Gehirn fand, verursachte ihm schlimmere Pein als eine Folter. Der Schmerz schien seinen Schädel von innen heraus auszuhöhlen.
Er schrie - erst leise, dann immer lauter.
Vor ihm war eine . Wand.
Eine Barriere, deren Natur nur einem bösen Zauber entspringen konnte!
Oder narrten ihn seine Sinne? Wurden sie getäuscht, um zu verhindern, daß Tikal das Paradies jenseits des Walls erspähte und sich von dessen Lockungen verführen ließ .?
Tikal wirbelte herum, als er ein Brausen vernahm, wie es nur kraftvolle Schwingen verursachen konnten.
Die Augen nun wieder weit offen, starrte er auf den gewaltigen Schatten, der sich vor die Scheibe der nächtlichen Sonne geschoben hatte. Ein Schatten, der genau aus der Richtung kam, in der sich der Palast der Unbarmherzigen erhob!
Die Angst ließ Tikal den Speichel im Mund gefrieren - zumindest fühlten sich seine Zunge und der Gaumen plötzlich an, als wären sie von Rauhreif bedeckt .
Völlig außer sich kam der junge Maya auf die Beine. In seinen Augen irrlichterte es, als es keinen Zweifel mehr gab, daß Viejo es tatsächlich getan, ihn wahrhaftig verraten hatte .!
Es war nicht mehr Viejo, tröstete er sich, doch diese Einsicht verfehlte ihre Wirkung.
Immer näher kam das geflügelte Ungetüm, von dem Tikal
Weitere Kostenlose Bücher