Tempel der Unsterblichen
Bescheid zu wissen. Vielleicht hatten sie aus den Augen ihrer Jaguare mitangesehen, was draußen an der Grenze vorgefallen war. In jedem Falle musterten sie ihren Bruder mit Verachtung. Doch selbst dies konnte ihre Freude über den Grund des Zusammentreffens nicht mindern.
Ihrer aller Vater war zurück - endlich!
Und wie die Wölfin es vor Tagen angekündigt hatte, war er nicht allein gekommen. In seiner Begleitung befand sich eine Frau .
... in der sie, seine Kinder, fortan ihre Mutter sehen!
Den Sinn dieses seltsamen Befehls zu hinterfragen - der Gedanke allein war ihnen schon verboten. Erlaubt waren ihnen einzig bedingungsloser Gehorsam und alles, was ihrem Vater zum Wohlgefallen sein mochte.
Die lähmende Auswirkung dessen, was durch Chiquels Unachtsamkeit geschehen war, ließ allmählich nach. War es eben noch gewesen, als würde die Zeit stillstehen, so geriet ihr gewaltiges, unsichtbares Räderwerk nun allmählich wieder in Gang. Und kaum war sie wieder von Bedeutung, drängte die Zeit auch schon.
Zapata, der Chiquel am nächsten saß, erhob sich als erster.
»Laßt uns aufbrechen, um Vater in Empfang zu nehmen«, sagte er, derweil er schon einer der Fensteröffnungen zustrebte.
»Vater - und Mutter«, erinnerte Cuyo ihn mit ganz eigener Betonung und freudlosem Lächeln.
»Natürlich.« Zapata nickte, auf gleiche Art lächelnd. Dann wandte er sich um. »Chiquel«, sagte er, »benachrichtige du die anderen. Wir brechen auf. Und vergewissere dich, daß alles für die Ankunft unseres Vaters in der Stadt bereit ist.« Und nach einer kurzen Pause setzte er hinzu, in durchaus wohlmeinendem Ton: »Und, Chiquel, du hältst dich besser im Hintergrund, wenn wir Vater gegenübertreten.«
Chiquel nickte stumm und verließ den Raum, fast fluchtartig, um zu den Brüdern und Schwestern zu eilen, die sich nicht an dieser Wacht beteiligt hatten.
Die drei verbliebenen Vampire gingen unterdessen auf die Fenster zu. Auf halbem Wege schon verwandelten sie sich, um fliegend den Raum zu verlassen.
Wenig später schlossen sich ihnen vier weitere Schatten an, die ebenfalls aus dem Palast aufgestiegen waren. Ihre ledernen Schwingen pflügten die Nacht. Dumpfes Rauschen begleitete ihren Flug und war noch weit unter ihnen zu hören, wo sich von plötzlicher Furcht gepackte Menschen tiefer als sonst in ihre Lager und Hängematten kauerten.
Gerade so, als wüßten sie, daß die schlimmste aller Zeiten ihnen noch bevorstand -- und jetzt anbrach.
*
Der Anblick war bizarr, unheimlich und faszinierend in einem.
Sie kamen aus dem Dunkel der Nacht wie aus dem Nichts und fielen regelrecht vom Himmel nieder. Für Lilith sah es aus, als lösten sich eigentümlich geformte Trümmerstücke aus dem Schwarz des Firmaments. Im Fall jedoch veränderten sich ihre Konturen, als forme der Wind sie neu. Für den Moment fast schwerelos, landeten die Gestalten schließlich im kniehohen Gras. Momentelang kauerten sie in hockender Stellung da, bevor sie sich wie auf ein geheimes Zeichen hin synchron erhoben.
Acht waren es, vier Männer und vier Frauen, die sich vor ihr und Landru zu einem lockeren Halbkreis formierten. Und Lilith konnte, der Absonderlichkeit ihres Erscheinens zum Trotz, die Augen kaum von den Fremden wenden. Von solcher Wohlgestalt waren sie, daß Lilith sich von ihrem Anblick in Bann geschlagen fühlte.
Nie zuvor hatte sie schönere Menschen gesehen. Unweigerlich kam ihr der Gedanke, diese Acht müßten einst Statuen gewesen sein, von kunstfertigster Hand gestaltet bis ins kleinste Detail und dann erst mit dem Odem des Lebens erfüllt. Der matte Glanz, mit dem das spärliche Licht ihre vielfarbig bemalte Haut überzog, bestärkte Lilith noch in ihrem Vergleich.
Aber der eigentümliche Zauber des Szenarios verflog, rascher als er entstanden war. Denn der zweite Blick offenbarte Lilith andere Eindrücke, die sich eben noch hinter den Masken aus Anmut und beinah schon überirdischer Schönheit verborgen hatten. Jetzt erst sah Lilith die Kälte in den Augen der Fremden und wurde der bedrohlichen Aura gewahr, in die sie sich hüllten wie in unsichtbare Mäntel.
Trotzdem fühlte sich Lilith keine Sekunde lang in Gefahr. Denn da war noch mehr, was von den acht alterslos scheinenden Wesen ausging - ein Hauch imaginärer Wärme, der sowohl ihr als auch Land-ru gleichsam entgegenbrandete. Zudem drückte die Haltung der Fremden eine eigenartige Mischung aus Demut und Freude aus, die Lilith ein nicht unangenehmes Gefühl vermittelte; im
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