Tempel der Unsterblichen
Gegenteil glaubte sie darin jenes Gefühl zu erkennen, das sie so lange ersehnt hatte - das Gefühl, willkommen und ...
... nach Hause gekommen zu sein?
Es verwirrte sie. Einerseits wollte Lilith sich diesem Gefühl ergeben, andererseits aber schreckte sie davor zurück und wollte es sich verbieten. Sie verstand sich selbst kaum - ganz zu schweigen von dem, was hier vorging.
Zu weiteren Überlegungen, die ohnedies fruchtlos geblieben wären, kam sie nicht. Landru faßte ihre Hand und geleitete sie schweigend auf die Fremden zu. In der Mitte des Halbkreises blieben sie stehen. Mit der freien Hand zeichnete Landru dessen Linie nach.
»Nun?« fragte er schließlich, und sein Tonfall war ebenso gespannt wie feierlich. »Erkennst du sie wieder?«
Lilith sah ihn an und dann wieder zu den Fremden hin, die ihr, obwohl sie einen nach dem anderen sekundenlang musterte, fremd blieben.
»Ob ich sie wiedererkenne?« fragte sie schließlich verwirrt. »Ich ... Nein, weshalb sollte ich ...?«
Ein Ausdruck gelinder Enttäuschung huschte über Landrus Züge. Er seufzte.
»Ich hatte gehofft, daß diese Begegnung die Fesseln um deine Erinnerung lösen würde.«
»Aber warum ...?«
Landru sah Lilith an und lächelte larmoyant. »Weil ich glaubte, daß du wenigstens deine Kinder nicht ganz vergessen hättest.«
»Nein ...!«
»O doch.« Landru wies in die Runde. »Du bist ihre Mutter.«
»Und du ...?« fragte Lilith. Sie ahnte, nein, sie wußte die Antwort. Landrus Andeutungen, die er seit ihrem Zusammentreffen in Sydney gemacht hatte, ergaben mit einemmal einen Sinn. Wenn auch einen, den Lilith weder verstehen noch akzeptieren wollte.
»Ich bin ihr Vater«, bestätigte der Vampir und musterte ihre Kinder, eines nach dem anderen und ganz in der Art eines Vaters, der stolz war auf seine Stammhalter.
Lilith fühlte sich hilflos angesichts der ungeheuerlichen Eröffnung, unfähig etwas zu sagen oder gar zu tun, weil nichts der Situation angemessen schien. Wieder ließ sie den Blick wandern und diesmal länger in jedem einzelnen Antlitz verweilen. Sie suchte nach etwas Vertrautem, das ihr verraten hätte, daß Landrus Behauptung den Tatsachen entsprach. Doch sie fand nichts dergleichen, nicht einmal ein vages Indiz dafür, daß sie auch nur eines ihrer »Kinder« je zuvor gesehen hätte. Sie blieben ihr fremd.
Landrus sachte Berührung schreckte sie aus ihren Gedanken. Seine Stimme klang belegt, sein Ton war bedauernd. »Daß du unsere Kinder nicht mehr erkennst, trifft mich tief. Aber mehr noch macht mir zu schaffen, daß du dich nicht mehr an die Nächte erinnerst, da wir sie zeugten.«
Lilith schloß die Augen, weil sie das Unbehagen, das ihr die Vorstellung verursachte, nicht zeigen wollte. Den anderen mochte es vorkommen, als lausche sie in sich.
Zögernd berührte Lilith dann ihren flachen Bauch. Hatte er sich tatsächlich einst gewölbt, als diese Kinder in ihrem Leib herangewachsen waren? Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Zumindest daran hätte sie sich doch erinnern müssen! Eine Geburt (acht Geburten!) konnte sie doch nicht einfach vergessen haben! Irgend etwas, zumindest der Hauch einer Erinnerung mußte doch übriggeblieben sein .
Aber Lilith empfand nichts dergleichen.
»Möglicherweise hilft es dir, wenn du die Namen unserer Kinder hörst.«
Landrus Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihr. Erst als sie die Augen wieder öffnete, fühlte Lilith sich wirklich zurück in dieser Welt, die ihr nach wie vor fremd vorkam und doch die ihre sein mußte. Fast schien es ihr, als lösche jedes einzelne von Landrus Worten einen winzig kleinen Teil ihrer Zweifel aus. Und irgendwann mußte einfach Gewißheit an deren Stelle treten.
Schritt um Schritt gingen sie gemeinsam die Reihe ab. Vor jedem der Kinder blieben sie einen Augenblick lang stehen, so daß Lilith Gelegenheit hatte, deren Züge zu studieren.
Landru nannte die Namen.
»Pomona ... Zapata ... Cuyo ...«
Lilith sah sich kaum imstande, die Namen zu behalten.
»... und Chiquel.«
Chiquel war der letzte im Halbrund Stehende. Sein Gesicht war schön und ebenmäßig wie das seiner Geschwister; vom Wuchs her mochte er ein klein wenig schmächtiger sein denn seine Brüder, und seine Züge wirkten eine Spur mädchenhaft - - und unverkennbar nistete Furcht darin!
Sichtlich bemüht versuchte Chiquel, Landrus Blick standzuhalten. Aber der flackernde Schimmer darin verriet ihn.
Landru lächelte überlegen.
»Chiquel, Chiquel ...«, wiederholte er.
Lilith
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