Tempel der Unsterblichen
Sekunde Aufschub. Dann war das Biest wieder heran. Lilith meinte schon zu spüren, wie sich die Krallen von neuem in ihr Fleisch gruben - - doch da verlor der Jaguar mit einemmal das Interesse an ihr. Ein neuer Gegner war aufgetaucht, und instinktiv schien das Tier zu erkennen, daß es sich bei ihm um den gefährlicheren handelte.
Der Jaguar schnellte auf Landru zu, prallte mit vollem Gewicht gegen dessen Brust und Bauch und riß ihn nieder.
Ein wüster Kampf entbrannte, den Lilith kaum zu verfolgen vermochte. Zum einen ging der Schlagabtausch zwischen Tier und Vampir viel zu schnell vonstatten, zum anderen machte der Schmerz, der in ihren Wunden wühlte, sie nahezu blind und taub für jede andere Wahrnehmung.
Jedoch - der Schmerz ließ nach, langsam, kaum merklich im Grunde, aber er tat es.
Weil ihre Verletzungen heilten!
Wie von unsichtbaren Chirurgenhänden vernäht und verschweißt, schlossen sich die blutgefüllten Klüfte in Haut und Fleisch. Lilith beobachtete es staunend, aber ihre Überraschung war nicht annähernd so groß, wie sie es hätte sein müssen. Denn etwas anderes, das sie erst jetzt feststellte, wog vielfach schwerer.
Die Farbe ihres Blutes; es war -
- schwarz!
»Nein!« flüsterte sie entsetzt.
Aber es war nicht nur eine Täuschung im Dunkel der Nacht: In Liliths Adern floß schwarzes Blut. Das Blut eines Vampirs, ohne jeden Zweifel .
Hatte sie denn daran gezweifelt? fragte sie sich im stillen.
Offenbar doch, all dem zum Trotz, was sie bislang erfahren und erlebt hatte und was ihre Zweifel eigentlich schon hätte ausräumen müssen. Aber irgendwie hatte sie, ganz tief in sich, doch noch einen winzigen Funken von Hoffnung gehegt, alles könnte letztlich doch ganz anders sein, sich als Irrtum oder Täuschung erweisen .
Vorbei.
Wie auch der Kampf zwischen Landru und dem Jaguar.
Lilith wußte nicht, ob die Stille schon andauerte oder eben erst eingesetzt hatte. Erschrocken wandte sie den Kopf, blickte in die Richtung, wo das erbitterte Ringen eben noch im Gange gewesen war. Hatte der Jaguar Landru etwa -?
An einen solchen Ausgang des Kampfes wollte Lilith nicht denken! Schließlich war Landru - ja, was war er? Ihr Verbündeter und Gefährte? Oder noch weit mehr?
Landru erhob sich, richtete seine zerrissenen Kleider, so gut es noch ging, und strich über seine Wunden, als könne er sie einfach fortwischen. Und es schien, als könne er es tatsächlich .
Der Jaguar kauerte neben ihm, glich in seiner Haltung einem geprügelten Hund, aber das war es nicht, was Lilith erstaunte.
Seine Augen fesselten ihre Aufmerksamkeit.
Denn es waren nicht länger die eines Tieres - - sondern die eines ... Menschen?
Man hat die Türen zu einem wunderbaren Schatz geschlossen.
Man hat die Flamme des Tempels gelöscht.
In den verlassenen Straßen schweifen verlorene Schatten und Gespenster mit leeren Augen umher.
Miguel Angel Asturias
Seit Minuten nun schon fühlte Chiquel sich nicht imstande, auch nur das geringste Glied zu rühren. Entsetzen und Furcht hatten tief in ihm eisige Wurzeln geschlagen. Fast meinte er inmitten seiner sich überschlagenden Gedanken den Wunsch auszumachen, die Starre möge nie mehr von ihm abfallen. Weil die Folgen furchtbarer sein mochten als alle Greuel, die er sich vorstellen konnte. Und seiner Phantasie waren in dieser Hinsicht kaum Grenzen gesetzt .
Was hatte er nur getan?
Leichtsinnig war er gewesen, geradezu frevelhaft fahrlässig! Um ein Haar hätte er eine Schuld auf sich geladen, die nie mehr zu tilgen gewesen wäre. Sie wog ohnedies schon schwer, obwohl er die Gefahr im letzten Moment noch abgewendet hatte; schwer genug vielleicht, daß ihm die Strafe, die er dafür empfangen würde, unerträglich sein mochte; schlimmer also als jede Selbstkasteiung, der Chiquel sich in seinem schier ewig langen Dasein aus freien Stücken unterzogen hatte.
Dennoch würde er sie hinnehmen, ohne Widerwort oder gar Gegenwehr. Er sah ein, daß er jede nur denkbare Strafe verdient hatte -dafür, daß er (im übertragenen Sinne jedenfalls) die Hand erhoben hatte gegen seinen eigenen Vater!
Buchstäblich im allerletzten Augenblick hatte Chiquel Verbindung zu seinem Jagdtier aufgenommen und somit gesehen, was es gesehen hatte - ein Gesicht, das ihm trotz der fürchterlichen Wunden, die es verunstaltet hatten, vertraut gewesen war wie kaum ein anderes.
Obwohl Chiquel kein Wort über seinen unentschuldbaren Fehler
verloren hatte, schienen seine hier versammelten Geschwister
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