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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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konzentriert auf die Straße. Ich fragte sie, was ihr durch den Kopf ginge. Sie sagte, sie könne gut verstehen, warum die Bar etwas »Besonderes« für mich war. Sie drehte sich zu mir und zeigte mir ihr blendendes Lächeln, das Streifenpolizisten veranlasste, sie nur zu verwarnen, statt ihr einen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens auszustellen, aber es verbarg sich noch mehr dahinter. Ihr leuchtete ein, warum die Bar für mich als kleiner Junge etwas Besonderes war, aber sie konnte nicht begreifen, warum ich den Laden auch noch als junger Mann so faszinierend fand. Vielleicht stellte sie sich auch die Gesichter ihrer Eltern vor, wenn sie Joey D oder Onkel Charlie sehen würden.
    Sidney hatte ihre Wohnung aufgegeben und sich für ihr letztes Jahr in einem Studentenwohnheim eingemietet. Wir saßen auf ihrem Bett und unterhielten uns noch eine Weile über den Abend. »Wieso klingt dieser Dolt eigentlich wie Yogi Bär?«
    »Colt? Keine Ahnung. Das ist eben seine Stimme.«
    »Und warum wird er Colt genannt?«
    »Jeder in der Bar hat einen Spitznamen, aber Steve kam nie dazu, sich einen für Colt auszudenken, und weil er sich ausgeschlossen fühlte, hat er eines Abends verkündet, dass er fortan Colt genannt werden möchte.«
    »Aha. Und dieser eine Typ, der wie ein Muppet aussieht …«
    »Joey D.«
    »… warum führt er dauernd Selbstgespräche?«
    »Als ich kleiner war, dachte ich immer, in seiner Tasche wäre eine Schmusemaus, mit der er redet.«
    »Hm.«
    Kurz nach unserem Abstecher in die Bar sagte Sidney, sie brauche »Zeit«. Zeit, um ihren Lernstoff nachzuholen und zu planen, was sie nach dem Examen machen wolle. Es sei keine Agita, versicherte sie mir und nahm meine Hand zwischen die ihren. »Zeit«, sagte sie. »Gib mir einfach ein bisschen Zeit, um alles in Ordnung zu bringen.«
    »Natürlich«, sagte ich. »Zeit.«
    Ohne Sidney hatte ich jede Menge Zeit. Wäre ich vernünftig gewesen, hätte ich Vorlesungen besucht und Lernstoff nachgeholt. Stattdessen schrieb ich für die Yale Daily News und war ständig in der Beinecke Library, wo ich Briefsammlungen von Hemingway, Gertrude Stein und Abraham Lincoln durchblätterte. Nicht selten verbrachte ich einen ganzen Tag in einem der Museen, vor allem im Yale Center for British Art, in dem ich mir die Porträts von John Singleton Copley aus der amerikanischen Kolonialzeit ansah. Ihre Gesichter, aus denen eine gewisse Unschuld und Reinheit leuchtete, aber auch Schalk, erinnerten mich an die Gesichter an der Theke im Publicans. In meinen Augen konnte es kein Zufall sein, dass Copley einige seiner Protagonisten in Tavernen posieren ließ. Viel Zeit verbrachte ich auch vor einem Gemälde von William Hogarth aus dem achtzehnten Jahrhundert, Moderne Mitternachtsunterhaltung; es zeigt einen Tisch in einem Wirtshaus und ein Dutzend Trinker, die lachen und tanzen und hinfallen. Manchmal musste ich laut lachen, wenn ich das Bild sah, und jedesmal bekam ich Heimweh.
    Eines Abends ging ich aus dem Museum und kehrte in einer Eckkneipe ein. Ich trank einen Scotch. Ich hatte einen Gedichtband von Dylan Thomas bei mir, las ein wenig, trank noch einen Scotch. Auf dem Rückweg in mein Zimmer beschloss ich, noch bei einer Party vorbeizuschauen, von der ich gehört hatte. Sie fand in einem Keller statt. Fünfzig Studenten hingen um ein Bierfass, während in der Ecke ein Typ Keyboard spielte. Ich lehnte mich an das Klavier und sah zu.
    Er musterte mich, während er die Tasten auf und ab spielte. »Ich kenne dich«, sagte er. »JR, stimmt’s? Mo, Moe …«
    »Moehringer.«
    »Genau. Du und Sidney.«
    Ich nickte.
    »Muss hart sein«, sagte er. »Sie und dieser Doktorand. Das muss wehtun.« Als er mein Gesicht sah, hörte er zu spielen auf und sagte: »Oh-oooh.«
    Ich rannte zu Sidneys Zimmer. Schneeregen fiel, die Gehwege waren rutschig. Ich war betrunken und fiel hin. Zweimal. Nass, verschrammt und außer Atem stürmte ich in ihr Zimmer und schaltete das Licht an. Erschrocken fuhr sie im Bett auf. Sie war allein.
    »JR?«
    »Stimmt es?«
    »JR.«
    »Nicht. Bitte, bitte lüg mich nicht an. Sag mir einfach, ob es stimmt.«
    Sie zog die Knie an die Brust und sagte gar nichts. Ich wollte sie schlagen, zur Rede stellen, sie zwingen, mir jede Einzelheit zu erzählen. Wie lange schon? Wie oft? Warum? Aber es war zwecklos. Ich sah die Sinnlosigkeit des Ganzen, die Vergeblichkeit der Fragen. Ich ging aus dem Zimmer und ließ die Tür weit offen.
    Der Zug nach New York war voll, und der

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