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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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einzig verfügbare Sitz im Speisewagen. Ich hatte nichts dagegen. Zusammengekauert saß ich am Fenster, trank meinen Scotch und sah Connecticut vorbeirauschen. Im Sitz gegenüber von mir saß ein Priester. Er war kahlköpfig, abgesehen von ein paar dünnen Strähnen ganz oben. Seine blauen Augen, überdacht von flaumigen weißen Augenbrauen, standen eng zusammen und fixierten mich. Ich betete, er möge mich nicht ansprechen.
    »Wohin geht’s denn?«, fragte er.
    Langsam, als hätte ich einen steifen Hals, wandte ich mich ihm zu. »Manhasset«, sagte ich und drehte mich wieder zum Fenster. »Manhasset? Wo ist das?«
    »Auf Long Island.«
    »Manhasset auf Long Island. Hat einen schönen Rhythmus. Manhass-et. Klingt erfunden.«
    »Ist es auch.« Es klang schroffer als beabsichtigt. Ich drehte mich wieder zu ihm. »Dort ist auch diese verlogene Xanthippe Daisy Buchanan zuhause.«
    »Und ihr kretinhafter Gatte Tom.« Er hob sein Glas zu einem stummen Toast, ob auf mich oder die Buchanans war schwer zu sagen. »Und jetzt machst du Ferien?«
    »Eher eine ungeplante Pause.«
    »Du klingst bedrückt, mein Sohn.«
    »Ich fand gerade heraus, dass Daisy ein doppeltes Spiel mit mir treibt.«
    »Ah.«
    »Entschuldigung. Ich schätze, es gehört sich nicht, mit einem Priester über ein Mädchen zu reden.«
    »Unsinn. Ich höre von nichts anderem. Liebe und Tod.«
    »Ja, richtig. Priester und Barmänner.«
    »Und Friseure.« Er fuhr sich mit der Hand über den Schädel. »Heißt es jedenfalls immer. Lass mich raten. Erste Liebe?«
    »Ja.«
    »›Erste Liebe oder vergangene Liebe – welches dieser beiden Gefühle übt mehr Macht aus? Welches ist schöner?‹ Longfellow.«
    Ich lächelte. »Meine Großmutter hat mir seine Gedichte oft aufgesagt.«
    Der Priester rezitierte weiter. »Der Stern des Morgens oder der Abendstern? Der Sonnenaufgang oder der Sonnenuntergang des Herzens? Die Stunde, da wir dem Unbekannten entgegenblicken und der fortgeschrittene Tag die Schatten verzehrt – oder die Stunde, da die ganze Landschaft unseres Lebens sich hinter uns erstreckt und vertraute Orte in der Ferne schimmern – ›und süße Erinnerungen‹ … ähm … ›und süße Erinnerungen‹ … wie geht es noch weiter … ich werde alt. Egal, du verstehst schon.«
    Der Priester streckte die Hand aus und patschte mir liebevoll aufs Knie.
    »Ich geb dir einen aus«, sagte er. »Was trinkst du, mein Junge?«
    Er schüttelte die Eiswürfel in seinem Becher wie ein Backgammon-spieler, der mit Würfeln rasselt.
    »Scotch«, sagte ich.
    »Natürlich. Was sonst!«
    Als er zurückkam, dankte ich ihm und fragte, wohin er unterwegs sei. Zu einer Konferenz, sagte er. Er vertrat seine Kirche, die in einem Provinznest in Neuengland ansässig war, von dem ich noch nie gehört hatte. Wir unterhielten uns über Religion, und er stellte erfreut fest, dass ich erst kürzlich die Bekenntnisse von Augustinus gelesen hatte.
    »Du musst ein Yalie sein«, sagte er.
    »Im Augenblick noch.«
    »Du hast hoffentlich nicht vor, aufzugeben!«
    »Ich glaube eher, Yale gibt mich auf. Wegen meiner Noten.«
    »Noten lassen sich verbessern. Du bist doch ein heller Junge.«
    »Es ist schwer, Pater. Schwerer als ich dachte.«
    »Der Reiz des Schwierigen sog mir den Saft/Aus meinen Adern, riss mir Wohlbehagen/Und jähe Freude aus dem Herzen. Yeats.«
    »Yeats war bestimmt auch in Yale.«
    »Wenn ja, hätte er es sicher auch schwierig gefunden. Bei schöpferischen Menschen ist das so.«
    »Sie sind sehr freundlich. Aber ich bin ein Idiot. In meiner Highschool kam ich mir wie Einstein vor – heute weiß ich warum. Die eine Hälfte der Schüler war dumm, die andere stoned. In Yale gehöre ich zu den Dummen. Und je dümmer ich mir vorkomme, umso seltener besuche ich Vorlesungen, wodurch ich noch weiter zurückfalle und ich mir noch dümmer vorkomme.« Ich lehnte mich in meinen Sitz zurück. »Eigentlich wollte ich Jura studieren«, sagte ich leise. »Keine Chance. Und ich weiß nicht, wie ich das meiner Mutter beibringen soll.«
    »Will deine Mutter denn unbedingt, dass du Jura studierst?«
    »Unbedingt.«
    »Und was willst du?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Du musst doch eine Vorstellung haben.«
    »Ich möchte einfach – schreiben.« Zum ersten Mal hatte ich es laut ausgesprochen.
    »Bravo! Eine noble Berufung! Gedichte?«
    »Für Zeitungen.«
    »Nein. Du siehst wie ein Dichter aus. Du schmollst wie ein Dichter. Vielleicht ein Romanschriftsteller?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Ich

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