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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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hatte, aber sie mochte nicht riskieren, mich ein weiteres Mal zu verletzen. »Das wollte ich dir eigentlich erklären, als wir letzten Monat essen waren«, sagte sie. »Ich bin verwirrt. Ich bin am Ende. Ich brauche …«
    »Zeit. Ich weiß.«
    »Du bist dir immer so sicher, wenn es um andere geht. Bei dir ist alles schwarz oder weiß. Dir fällt es nicht schwer, dich anderen zu öffnen.«
    »Ich wäre froh, wenn ich mich anderen verschließen könnte.«
    Sie tupfte sich die Lippen mit einer Papierserviette ab. »Ich muss aussteigen«, sagte sie. »Viel Glück bei der Times. Und gib Bescheid, wie’s weitergeht.«
    Sie küsste mich und eilte aus dem Zug.
    In New Haven hätte ich mir am liebsten eine Bar gesucht und meine Mutter angerufen. Ich musste mich zwingen, in die Sterling Library zu gehen und alte Zeitungen auf Mikrofilm zu durchforsten, was meine Laune nicht gerade besserte. Zwar fand ich einige Artikel, die ich vergessen hatte, aber das wohl mit gutem Grund. Es waren banale Kurzberichte über nichts, ein paar hundert Wörter hier und da über diesen Sprecher oder jenes Ereignis. Marie von der Times würde darin nicht mal ihr halb aufgegessenes Sandwich nach der Mittagspause einwickeln.
    Jetzt brauchte ich wirklich einen Drink. Ich rief einen früheren Zimmerkollegen an, der in New Haven geblieben war, um Jura zu studieren. In einer Bar trafen wir noch einen Freund und zwei Frauen. Nach ein paar Gläsern stiegen wir alle in das Auto des Freundes und fuhren zu einem Restaurant. Unterwegs schnitt mein Freund unbeabsichtigt ein Auto voller junger Männer in unserem Alter. Sie trugen Muskelshirts und Goldkettchen und ließen sich durch unser entschuldigendes Winken nicht beschwichtigen. An der nächsten roten Ampel stürmten sie unser Auto und rissen die Türen auf. Ich saß vorn auf dem Beifahrersitz, mit einer Frau auf dem Schoß. Ich beugte mich über sie, um sie vor den Schlägen abzuschirmen und machte mich damit zu einer festen Zielscheibe. Ein Mann, der Ringe oder einen Schlagring trug, boxte mir blitzschnell sechsmal ins Gesicht und sagte irgendwas von »Yalie-Arsch«, während ein anderer Mann meinem Freund, dem Fahrer, mit Schlägen zusetzte. Als die Ampel grün wurde, gelang es meinem Freund, auf D zu schalten und davonzubrausen.
    Aus meiner Lippe quoll Blut. Eine Beule auf meiner Stirn fühlte sich an wie ein sprießendes Geweih. Mit meinem Auge stimmte etwas nicht. Wir fuhren in ein Krankenhaus, hätten aber mehrere Stunden warten müssen. »Wir verarzten uns selber«, sagte mein Freund und brachte mich in eine Bar um die Ecke. Ich wunderte mich, warum die Glocken von Harkness so spät läuteten. Ich fragte den Barmann. »Die läuten bloß in deiner Glockenstube, du Schlaumeier«, sagte er. »Wahrscheinlich hast du so was wie ’ne Gehirnerschütterung. Das beste Mittel dagegen ist Tequila.« Ich sah ihn an. Er kam mir bekannt vor. Die Bar kam mir bekannt vor. War dies nicht die Bar, in der ich die fünfundsiebzig Dollar vertrunken hatte, die mir meine Mutter geschickt hatte, damit ich JR Maguire werden konnte? Ich erklärte meinen Freunden, dass JR Maguire niemals überfallen worden wäre. JR Maguire hätte es nie so weit kommen lassen, dazu war er viel zu klug. Sie hatten keine Ahnung, wovon ich redete.
    Ich schlief ein paar Stunden auf dem Sofa meines früheren Zimmerkollegen und setzte mich im Morgengrauen in den ersten Zug nach New York. Vom Grand Central nahm ich mir ein Taxi zur Times. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bewunderte ich die Pracht und Erhabenheit des Gebäudes, die kugelförmigen Lampen an der Vorderfront und die altenglische Schrift: Times. Die gleiche Schrift wie auf dem Publicans-Schild. Am liebsten hätte ich mich angeschlichen und durch die Fenster gespäht, doch es gab keine Fenster. Ich dachte an die großen Reporter, die jeden Tag durch den Eingang schritten, dann fielen mir meine erbärmlichen Arbeitsproben in der Mappe unter meinem Arm ein. Im selben Moment wünschte ich mir, die Schläger in New Haven hätten mich totgeprügelt.
    Etwa drei Meter entfernt stand ein Mann. Er trug einen karierten Blazer, weißes Hemd, Regimentskrawatte, und sein dichter weißer Haarschopf erinnerte mich an Robert Frost. Obwohl er keine Zähne hatte, aß er ein Wurstsandwich, und er strahlte mich an, als wolle er mich gleich beißen lassen, als würde er mich kennen. Ich lächelte zurück und versuchte ihn einzuordnen, bis ich merkte, dass er von der Hüfte abwärts nichts anhatte.

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