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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Fleck, der mir vor Jahrzehnten begegnet war. Ich trank meinen Scotch aus, knallte das Glas auf die Theke und zeigte auf Onkel Charlies Brust.
    »Was zum Teufel?«, sagte Onkel Charlie.
    Ich blickte nach unten. Mein Glas war zersplittert.
    »Lass gut sein, Junge«, sagte er, als er meine Miene sah. »Geh nach Hause.«
    »Ja«, sagte Dalton und blickte auf seinen Ledermantel, den ich mit Scotch bespritzt hatte. »Unbedingt, Blödmann. Ab mit dir.«
    Ich schwankte auf dem Gehweg nach Hause und gab auf dem zweihundertjährigen Sofa den Geist auf. Als ich im Morgengrauen aufwachte, fasste ich einen spontanen Entschluss. Ich sammelte meine Artikel aus Yale zusammen und steckte sie, zusammen mit einem hastig getippten Lebenslauf, in einen an die New York Times adressierten Umschlag. Ich wollte es Sidney zeigen. Und wenn die Times mich ablehnte, würde ich ihr den Absagebrief schicken. Ich warf den Umschlag in den Briefkasten vor der Bar und ging weiter zu Lord & Taylor, wo ich Ware im Wert von über tausend Dollar verkaufte, einen silbernen Brieföffner gewann und mir ausmalte, wie ich mir damit ins Herz stach.
    Ein paar Tage später machte ich mich für die Arbeit bei Lord & Taylor fertig und rasierte mich gerade, als Oma an die Badezimmertür kam. »Pat ist gestorben«, sagte sie.
    Pat? Pat war schon vor Jahren gestorben. Ich spähte Oma im Spiegel an. »Onkel Pat«, sagte sie. »Pat Byrne.«
    Sie meinte den Vater meiner anderen Cousins, die Jungs, die Oma uns immer als »perfekte Gentlemen« vor Augen gehalten hatte.
    »Die armen Jungen«, sagte sie und tupfte sich mit dem Handtuch, das ich ihr reichte, die Augen trocken. »Neun Jungen ohne einen Vater. Das muss man sich vorstellen.«
    In der brechend vollen Kirche war es heiß und stickig. Oma und ich saßen zusammengezwängt in einer hinteren Bank und sahen zu, wie die Byrne-Söhne den Sarg ihres Vaters trugen. Jeder Sohn hatte glatt nach hinten gekämmtes Haar, rötliche Wangen und ordentliche Muskelpakete unter dem Anzug. Alle waren vom gleichen Schlag, alle sahen aus wie ihr Vater, wobei ein Sohn unter den Übrigen vorstach. Überhaupt schien er das Hauptgewicht des Sarges zu tragen. Ich litt mit ihm, mit allen Byrnes, und trotzdem wollte ich nur gehen. Ich wollte ins Publicans laufen, mit Dalton über Montaigne reden, alle Gedanken an Väter und Tod in Alkohol ertränken. Aber Oma bestand nach dem Gottesdienst darauf, dass ich sie zu den Byrnes fuhr.
    Wir saßen im Wohnzimmer bei Onkel Pats Witwe, Tante Charlene. Sie war die Cousine ersten Grades meiner Mutter, also meine Großcousine, aber ich redete sie, wie schon immer, mit Tante Charlene an. Als ich noch kleiner war, schien Tante Charlene zu ahnen, welcher Wust von Gedanken mir durch den Kopf jagte, und meistens redete sie so freundlich mit mir, dass ich sofort ruhiger wurde. An jenem Tag war sie nicht anders. Wir unterhielten uns eine Weile, aber ich erinnere mich nur an ein Thema, über das wir sprachen. Väter. Sie machte sich Sorgen, gestand sie mir, wie ihre Söhne ohne Vater auskommen würden. Sie hoffte auf eine hilfreiche Bemerkung von mir, das merkte ich genau, auf einen weisen Rat von einem vaterlosen Sohn, aber ich musste sie enttäuschen.
    Im selben Moment kam Tante Charlenes Sohn Tim, der stärkste Sargträger, und entschuldigte sich für die Störung. Er gab mir die Hand und dankte mir für mein Beileid. Meine Hand verschwand in seiner. Er war genauso alt wie ich, aber doppelt so umfangreich. Er hatte gerade sein Examen in Syracuse gemacht, wo er Football gespielt hatte, und seine Arme waren so dick wie meine Beine. Er pflegte den unverblümten Long-Island-Akzent, den ich unbedingt hatte loswerden wollen, aber als ich ihn jetzt hörte, hätte ich ihn gern wieder zurückgehabt. Der Akzent ließ ihn knallhart klingen.
    Er fragte Tante Charlene, ob sie etwas brauche. Essen? Trinken? Dabei hielt er ihr die Hand. Er ging so lieb mit seiner Mutter um, dass Oma ihn mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Bewunderung ansah. Tim beugte sich nach unten und gab Tante Charlene einen Kuss, dann ging er los und holte ihr etwas zu trinken, machte ihr ein Sandwich und vergewisserte sich, dass die Gäste versorgt waren. Oma starrte ihm hinterher, und als sie sich zu mir drehte, zuckten ihre Augen, als wollten sie mir eine Nachricht zublinken.
    Aber ich verstand die Botschaft ohnehin.
    Echte Männer kümmern sich um ihre Mütter.
     
     
     
29 | TIMESMANN
     
    Dora ging am Ladentisch ans Telefon, während ich

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