Tender Bar
über einsneunzig groß, mindestens hundert Kilo schwer, und sein Babyspeck hatte sich in festes Fleisch verwandelt. Als er mich umarmte, fühlte es sich an, als würde er einen Panzer unter dem Hemd tragen, und seine Hände, mit denen er mir auf den Rücken klopfte, waren größer als Omas Topflappen. Mir fiel ein, wie ich als kleiner Junge meinen Vater umarmt hatte, jenes Gefühl, ihn nicht fassen zu können. »Womit füttern sie dich eigentlich in Nebraska?«, fragte ich.
Oma hielt die leere Milchpackung hoch und die Kekstüte, die er eben verputzt hatte. »Egal, womit«, sagte sie, »es ist nicht genug.«
Ich holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte mich ihm gegenüber. Er erzählte mir und Oma von seinen Missgeschicken in den Great Plains und brachte uns beide zum Lachen. Und er erzählte uns, was es hieß, Ersatz-Pitcher zu sein – der Druck, die Anstrengung, die Zuschauer. Mir fiel auf, dass er kaum noch stotterte.
Dann fragte er, wie es mir so ginge. »Wie läuft’s in der New York Times?«, wollte er wissen. »Bist du schon Reporter?« Er erkundigte sich beiläufig, als wäre mein Aufstieg so unaufhaltsam wie die Ausdehnung seiner Schultern. Ich nuschelte, das sei eine lange Geschichte.
Während ich McGraw zuhörte und seine Größe bewunderte, seine Flügelspanne, den unglaublichen Umfang seines Rumpfs und der Beine, überkam mich plötzlich das altbekannte Gefühl des Alleinseins, das ich immer empfunden hatte, wenn McGraw und seine Schwestern fortzogen. Diesmal war es nicht Tante Ruth, die ihn entführt hatte, sondern das Erwachsenenalter. McGraw war so hünenhaft und kräftig, wie ein Mann sein sollte, und ich dachte an unsere Ausflüge nach Rawhide, als wir kleine Jungen waren und die Roboter-Cowboys durch den Maschendrahtzaun beobachteten. McGraw gehörte jetzt zu den Cowboys. Ich stand immer noch draußen und spähte hinein.
Von allen Menschen, die mir teuer waren, hatte ich mich am häufigsten von McGraw verabschieden müssen. Jetzt war es wieder so weit. Ich musste mich von dem pausbäckigen Jungen mit dem Stoppelschnitt verabschieden und diesen blonden Superman begrüßen, was für mich ein Problem werden sollte. Ich blickte schon gewohnheitsmäßig und von Natur aus zu Männern auf, aber zu McGraw wollte ich nicht aufblicken. Eigentlich sollte er zu mir, seinem älteren Bruder, seinem Beschützer aufblicken. Doch das konnte McGraw jetzt nur noch, wenn er mich hochhob.
Ein paar Tage später saß ich in meiner Wohnung und arbeitete an meinem Roman, als McGraw ohne anzuklopfen durch die Tür kam. »Ich muss eine Runde werfen«, sagte er. »Mein Arm soll locker bleiben. Hast du Lust?«
Er hatte mir einen Handschuh mitgebracht. Wir gingen die Plandome Road entlang zum Memorial Field, wo wir uns verteilten und ungefähr achtzig Fuß zwischen uns legten, bevor wir den Ball hin und her lobbten und beim Aufwärmen unserer Schultern stöhnten, als hätten wir Arthritis. McGraw rieb den Schweiß auf seiner Stirn in den Ball. »Slider«, rief er. Der Ball versprühte im Flug Tropfen wie ein Schwamm. Er schwenkte nach rechts, sank dann steil ab. Ich schaffte es gerade so, ihn zu fangen. Ein anderer Ball, den er warf, schien in der Luft mehrmals langsamer und wieder schneller zu werden. Ich überlegte, ob McGraw sich einen Weg ausgedacht hatte, sein Stottern an die Nähte eines Baseballs abzugeben. Der Ball nahm Fahrt auf und knallte mit solcher Wucht in meinen Handschuh, dass ich glaubte, mein Handwurzelknochen wäre gebrochen. Ich legte alle Kraft in einen Fastball, den ich auf ihn abfeuerte, doch als McGraw zurückwarf, war es mir fast peinlich: Sein Ball war fünfmal so schnell. Seine angeschnittenen Würfe sahen aus wie Kometen, die einen Bogen von oben links nach unten rechts beschrieben. Als ich nach einem Forkball griff und fast einen halben Meter daneben langte, merkte ich: McGraw wird Baseball-Profi.
Im Grunde hatte ich es immer gewusst, zumindest seit McGraw sechzehn war und seine Spiele im Highschoolteam von den California Angels beobachtet wurden. Doch an diesem Tag sah ich – und spürte es in meiner brennenden Hand-, dass der Junge, mit dem ich aufgewachsen war, mit dem ich mir Bälle zugeworfen und die Mets bewundert hatte, mir davongelaufen war und kurz davor stand, unseren Kindheitstraum zu verwirklichen. Schon bald würde ihn eine Profimannschaft unter Vertrag nehmen, vermutlich die Mets, und sein Name wäre in aller Munde. Er würde der erste Pitcher in der Geschichte
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