Tender Bar
Ende der Woche schickten mich die Redakteure nach Brooklyn, wo ein junges Mädchen ums Leben gekommen war, das ins Kreuzfeuer zweier verfeindeter Gangs geraten war. Ich unterhielt mich mit ihren Freundinnen, Lehrern und Nachbarn. Sie war eine angehende Schriftstellerin, hieß es, die erst vor kurzem mit dem College begonnen und davon geträumt hatte, die nächste Alice Walker zu werden. Ihr Leben fing, genau wie meines, gerade erst an, und ich fühlte mich geehrt, über sie zu schreiben, und verpflichtet, über ihren Tod zu berichten, weshalb mir keine Zeit blieb, nervös zu werden. Ich schrieb eine Stunde lang, dann schickte ich den Text auf meinem Computer ab. Die Redakteure machten ein paar kleinere Korrekturen und stellten die Geschichte auf die Titelseite des Lokalteils. Gute Arbeit, sagten sie, offenbar erstaunt.
Am liebsten wäre ich im Publicans eingekehrt und hätte den Männern von meinem erfolgreichen Tag erzählt, doch ich hatte mir geschworen, während meines Probemonats nichts zu trinken. Ich versuchte, nicht allzu oft an diesen Vorsatz zu denken. Ich wollte mir weder eingestehen, dass die Bar ein Hindernis zum Erfolg sein könnte, noch mich näher damit beschäftigen, weshalb mir das Abschalten am Ende eines langen Tages so schwer fiel. Ich fragte mich oft, wenn ich bis vier Uhr früh wach lag und hörte, wie Louie den Grill anwarf, warum ich nur so unter Strom stand. Es lag nicht nur am fehlenden Alkohol, nicht nur am Stress. Etwas anderes war mit im Spiel. Ich fragte mich, ob es womöglich Hoffnung war.
Im Verlauf des Monats lernte ich, vor Redaktionsschluss ruhig zu bleiben. Ich fühlte mich sogar etwas wohler und begriff allmählich, was in Yale falsch gelaufen war. Der erste Lernschritt bestand im Umlernen, im Ablegen alter Gewohnheiten und falscher Annahmen. Das hatte mir bisher noch niemand erklärt, doch während meines Probemonats wurde mir das klar. Vor Redaktionsschluss blieb keine Zeit für alte Gewohnheiten, keine Zeit für Dinge, die ich gewöhnlich vor dem Schreiben machte – Listen außergewöhnlicher Wörter anlegen und darüber nachzudenken, wie ich mich anhörte. Zeit war nur für Fakten, und deshalb vollzog sich mein Umlernen notwendigerweise und fast gewaltsam. Bevor ich eine Geschichte für die Times schrieb, atmete ich tief durch und nahm mir vor, die Wahrheit zu sagen, und dann fand ich die Wörter oder sie fanden mich. Ich machte mir nichts mehr vor. Was ich schrieb, war keine Dichtkunst. Was ich schrieb, war nicht einmal besonders gut. Doch zumindest war das, was ich jeden Morgen unter meinem Namen las, anders. Es zeugte von Klarheit und Autorität, beides Dinge, die mir bisher nie gelungen waren, schon gar nicht während der Arbeit an meinem Publicans-Roman.
Nach der Hälfte meines Probemonats schrieb einer der oberen Redakteure eine Notiz an den Lokalredakteur, der sie mir weiterreichte. »Wer ist dieser J. R. Moehringer?«, wollte der wichtige Redakteur wissen. »Bitte gratulieren Sie ihm zu seiner guten Arbeit.«
Wenn sie mich befördern dachte ich, wenn ich ein richtiger Reporter bin, wird Sidney alles leid tun. Es wird ihr nicht entgehen, wenn sie meinen Namen täglich in der Times liest, und dann wird sie merken, wie falsch sie mich eingeschätzt hat. Sie wird mich anrufen und anflehen, sie zurückzunehmen.
Und vielleicht würde ich ihr den Gefallen tun. Schließlich hatte ich mich verändert – sie vielleicht auch. Im Laufe eines Jahres war ich vom Kneipengänger zum Reporter geworden. Wer wusste schon, was aus Sidney geworden war?
Ich ging auf die Herrentoilette in der Times und stellte mich vor den Spiegel. Ich sah anders aus. Klüger? Selbstbewusster? Ich war nicht sicher, aber es war eine klare Verbesserung. Ich sagte zu meinem Spiegelbild: Bald wirst du anständiges Geld verdienen. Vielleicht genug für eine richtige Wohnung, geruchfrei, mit einer Küche. Vielleicht genug, um deine Mutter aufs College zu schicken. Und danach – wer weiß? Vielleicht genug, um mit Sidney von vorn anzufangen. Und ihr eines Tages einen Ring zu kaufen.
36 | STEPHEN JR.
Einige Tage vor Ablauf meines Probemonats gab mir ein Redakteur einen kleinen Ausschnitt aus der aktuellen Ausgabe der Times. Ein Mann namens Stephen Kelley war vor seiner Wohnung in Brooklyn niedergeschossen worden. Der Polizei zufolge handelte es sich um einen eskalierten Verkehrsstreit. Der Artikel umfasste nur dreihundert Wörter, und der Redakteur unterstrich die fünf oder sechs
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