Tender Bar
wichtigsten. Kelley war schwarz, der Schütze weiß. Und noch schlimmer, der Schütze war ein Polizist außerhalb der Dienstzeit. Die Rassenprobleme in der Stadt waren ohnehin schon heikel, und vielen waren die Erinnerungen an Howard Beach und Tawana Brawley noch frisch im Gedächtnis. Diese neuerliche Schießerei hatte das Potenzial, einen weiteren Feuersturm auszulösen. Der Redakteur bat mich, der Sache nachzugehen und herauszufinden, wer Stephen Kelley war und etwas über ihn zu schreiben.
Zusammen mit einem Fotografen fuhr ich nach Brooklyn und klopfte an Kelleys Wohnungstür. Als sie geöffnet wurde, standen wir drei Männern von McGraws Statur gegenüber – Kelleys erwachsene Söhne, darunter auch Stephen Jr. Ich stellte uns als Mitarbeiter der Times vor, und wir wurden hereingebeten. Wir saßen im dunklen Wohnzimmer, bei heruntergelassenen Jalousien, und die Söhne erzählten in schroffem, heiserem Tonfall von ihrem Vater, der sie allem Anschein nach allein großgezogen hatte. Er war ein zäher Bursche, sagten sie, aber auch eine Glucke, ein echtes Sorgenbündel, das sich ständig um seine »Jungs« grämte. Erst kürzlich hatten die Söhne ein Treffen für den zweiundsechzigsten Geburtstag ihres Vaters geplant. Die Söhne – insgesamt sechs – lebten überall in der Welt verstreut, es sollte eine großartige Wiedervereinigung werden, zu der alle Kelley-Jungs nach Hause kommen wollten. Nun fand die Wiedervereinigung am Grab ihres Vaters statt.
Als es Zeit wurde zu gehen, versprach ich den Söhnen, einen ehrlichen Bericht über das zu schreiben, was sie mir von ihrem Vater erzählt hatten. »Hören Sie«, sagte Stephen Jr., als er mich zur Tür geleitete. »In mehreren Zeitungen wurde unser Name falsch geschrieben.«
»K-e-l-l-e-y«, sagte ich. »Richtig?«
»Richtig.«
»Glauben Sie mir, ich sorge dafür, dass er richtig geschrieben wird. Ich weiß um die Wichtigkeit von Namen.«
Am nächsten Morgen war ich früh in der Redaktion und las meine Geschichte bei einer Tasse Kaffee. Als ich aufblickte, sag der Wochenendredakteur auf meiner Schreibtischkante. »Tolle Leistung«, sagte er.
»Vielen Dank.«
»Im Ernst. Ein sehr guter Text. Heute Morgen wurde im Radio über Ihre Geschichte geredet.«
»Tatsächlich?«
»Nur weiter so, dann liegt eine strahlende Zukunft vor Ihnen.«
Er entfernte sich, und ich ließ mich in meinen Stuhl zurückfallen. Wer hätte sich das träumen lassen – ich, ein Reporter bei der New York Times? Ich fragte mich, ob Sidney die Geschichte gesehen und dann gelesen hatte. Am liebsten hätte ich meine Mutter angerufen und ihr den Artikel vorgelesen. Aber erst musste ich mich bei den Kelleys melden.
Schon nach dem ersten Läuten hob ein Mann ab. Ich erkannte die Stimme von Stephen Jr.
»Mr Kelley? J.R. Moehringer von der Times. Ich wollte nur anrufen und Ihnen danken, dass Sie sich gestern so viel Zeit für mich genommen haben. Ich hoffe, der Artikel war in Ordnung.«
»Ja. Er war gut. Aber wissen Sie, eins muss ich Ihnen sagen, Sie haben unseren Namen falsch geschrieben.«
»Was?«
»Sie haben ihn falsch geschrieben. Er buchstabiert sich K-e-l-l-y.«
»Das versteh ich nicht. An der Tür, als ich sagte›K-e-l-l-e-y‹, haben Sie gesagt: ›Richtig‹.«
»Mit richtig meinte ich, dass ihn die anderen Zeitungen falsch geschrieben hatten.«
»Oh.«
Mein Herz schlug so laut, dass ich schon fürchtete, er könnte es hören. Als Bob the Cop mich ins Krankenhaus fuhr, hatte ich meinen Herzschlag für anormal gehalten, jetzt aber wummerte mein Herz an die Brust, als ob es sie sprengen wollte.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Tut mir wirklich wahnsinnig leid. Da haben wir uns völlig missverstanden.«
»Schon gut. Aber vielleicht können Sie für eine Berichtigung sorgen.«
»Ja. Eine Berichtigung. Natürlich. Ich spreche mit den Redakteuren. Wiedersehen, Mr Kelly.«
Ich ging auf die Toilette und rauchte vier Zigaretten. Dann riss ich den Handtuchspender aus der Wand, trat Dellen in den metallenen Abfalleimer und boxte gegen die Tür einer Kabine, bis ich dachte, meine Knöchel sind gebrochen. Ich schloss mich in eine Kabine ein und versuchte zu entscheiden, was ich als Nächstes tun sollte. Ich überlegte, ob ich in die Bar gegenüber gehen und ein halbes Dutzend Scotch runterkippen sollte. Doch zum Trinken blieb noch später im Publicans reichlich Zeit. Ich überlegte, ob ich die Sache einfach verschweigen sollte, in der Hoffnung, die Redakteure würden nichts merken.
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