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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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so schwindlig ist.
    Die Männer verstummten und betrachteten verwundert ihr würziges Sonnensystem. Man hörte nur ein trockenes Husten, ein angerissenes Streichholz, Ella Fitzgeralds Scatgesang auf der Anlage, und für den Bruchteil einer Sekunde bildete ich mir ein, ich könnte tatsächlich spüren, wie sich das Publicans durch den Kosmos pflügt.
    Ich brauchte die Unvorhersehbarkeit der Bar. Eines Abends kam ein bekannter Schauspieler hereingeschlendert. Seine Mutter wohnte in der Nähe, er war auf einen Besuch nach Hause gekommen. Alle starrten wir ihn unverwandt an. Der Mann hatte in Filmklassikern mit den besten Darstellern seiner Generation gespielt, und nun war er hier, im Publicans, und wollte ein Glas Buttermilch. Er erklärte Onkel Charlie, er würde seinen Magen immer erst mit Buttermilch ummanteln, bevor er zu harten Sachen überging. Im Laufe des Abends zog Onkel Charlie den Schauspieler mehrmals wegen der Buttermilch auf und versicherte ihm, er sei der am wenigsten machohafte von allen Hauptdarstellern, mit denen er zu tun hatte. Der Schauspieler verstand Onkel Charlies Humor nicht. Er fühlte sich gekränkt. Er kletterte auf die Theke und machte Liegestützen, bis Onkel Charlie alles zurücknahm und einräumte, der Schauspieler sei genauso männlich wie jeder andere Mann auch.
    Ich brauchte die ruhigen Zeiten im Publicans. Zu meinen liebsten Erinnerungen gehören jene trüben, verregneten Sonntagnachmittage, kurz nach meinem Probemonat, wenn die Bar leer war und hinten nur ein paar Leute zum Brunch saßen. Ich aß eine Portion Eier und las die Book Review, während Mapes, der Barkeeper am Sonntag, Gläser in Seifenwasser spülte. Mir kam es oft vor, als säße ich in Nighthawks, meinem liebsten Gemälde von Edward Hopper. Mapes glich sogar dem vogelartigen Barmann, der an der Spüle steht. Irgendwann klappte Mapes dann die Trittleiter auf und polierte die Messingbuchstaben von »Publicans« über der Bar, während ich ihm zusah und ihn um seine Konzentration beneidete. »Ich wünschte, ich könnte mich so auf Wörter konzentrieren wie du auf die Messingbuchstaben«, sagte ich zu Mapes. Er nickte. Erst Jahre später wurde mir bewusst, dass Mapes nie auch nur ein einziges Wort mit mir geredet hatte.
    An einem jener ruhigen Sonntagnachmittage rief plötzlich jemand hinter mir: »Junior!« Ich drehte mich um und sah Jimbo, den gelassenen Kellner mit dem Engelsgesicht, der gerade Collegeferien hatte. Wie kam Jimbo auf die Idee, mich Junior zu nennen? Nur Steve nannte mich so. Dann fiel mir ein, dass Steve fast wie ein Vater für Jimbo war, dessen Eltern sich scheiden ließen, als er noch klein war. Wahrscheinlich hatte Jimbo gehört, dass Steve mich Junior nannte, und was immer Steve sagte, plapperte Jimbo nach. Ich warf ihm einen drohenden Blick zu – was hätte ich sonst tun können? Er war zu kräftig, um ihm eine zu knallen. Er sah aus wie der junge Babe Ruth.
    Er neigte sich zur Seite, um zu sehen, welches Buch ich las. »A Fan’s Notes von Fred Exley?«, sagte er. »Wovon handelt das?«
    Vielleicht lag es daran, weil er mich Junior genannt hatte oder vielleicht weil ich einen zu viel von Mapes starken Bloody Marys intus hatte, jedenfalls reichte es mir. Ich ging auf Jimbo los. »Ich hasse diese Frage«, sagte ich. »Warum müssen Leute immer wissen, wovon ein Buch handelt? Wer nur der Handlung wegen liest, wer die Geschichte wie die Cremefüllung aus einem Keks lutscht, sollte bei Comics oder Seifenopern bleiben. Wovon es handelt? In jedem Buch, das etwas taugt, geht es um Gefühle, Liebe, Tod und Schmerz. Es geht um Worte. Darum, wie ein Mann sein Leben meistert. Klar?«
    Mapes sah Jimbo an, dann mich und schüttelte den Kopf.
    Jimbo hatte im Publicans gearbeitet, seit er vierzehn war. Er war dort aufgewachsen und hatte mit Steves Sohn Larry in den Tunneln unter der Theke Verstecken gespielt. »Wie Huck und Tom in den Höhlen«, sagte er oft stolz. Jimbo hatte auch McGraw, seinen besten Freund während der Highschoolzeit, nach einem ihrer Baseballspiele bei einer Pizza-Party im Publicans kennen gelernt. Vermutlich war er der einzige junge Mann in der Stadt, dem die Bar noch mehr bedeutete als mir. Er zog die gleichen Dinge aus ihr, bezog die gleiche emotionale Nahrung von Steve und den Männern. Ich hatte versucht, über die Bar zu schreiben? Jimbo verkörperte sie. Er war die denkbar loyalste Seele, die man hier überhaupt zu finden hoffen konnte. Während mir all dies durch den Kopf ging und ich

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