Tender Bar
Schuhe. Tagein, tagaus trug sie einen schäbigen Morgenmantel – das Gewand ihrer Unterwerfung, ihr Sackleinen.
Kaum war Opa aus der Küche – nachdem Oma ihm seinen Kuchen serviert hatte –, trat ein schreckliches Schweigen ein. Ich beobachtete sie, ihr Blick war auf einen Teller gerichtet. Sie nahm ihre dicke Brille ab und tupfte über ihr linkes Auge, das jetzt nervös zuckte. Auf einem Foto, aufgenommen als Oma neunzehn war, sehen ihre blauen Augen ruhig und fest aus, ihr rundes Gesicht ist von welligem blondem Haar eingerahmt. Es war kein schönes Gesicht im herkömmlichen Sinn, aber die Züge strahlten Vitalität aus, und als diese Vitalität verschwunden war – von Kummer verjagt und wegtyrannisiert – harmonierten die Züge nicht mehr miteinander. Neben dem zuckenden Auge wurde die Nase weicher und krummer, die Lippen schmaler, die Wangen hohl. Jeder Tag der Erniedrigung und Scham war Oma anzusehen. Selbst wenn sie schwieg, sprach ihr Gesicht Bände.
Obwohl ich nicht verstand, warum Oma nicht zurückschlug und von ihrem genetischen Recht Gebrauch machte und ging, begriff ich nach diesem Auftritt von Opa sehr wohl den Sinn ihrer vielen Geschichten über Männer. Sie erzählte sie nicht nur mir zuliebe. Sie selbst war ihr bestes Publikum, denn sie rief sich ins Gedächtnis und versicherte sich, dass es durchaus gute Männer gab, die jederzeit zu unserer Rettung auftauchen konnten. Während sie weiter auf die Krümel starrte, hatte ich das Gefühl, ich oder irgendjemand sollte etwas sagen, bevor die Stille uns beide verschlang. Und so fragte ich: »Warum gibt es in unserer Familie so viele böse Männer?«
Ohne aufzublicken antwortete sie: »Nicht nur in unserer Familie. Böse Männer gibt es überall. Deshalb möchte ich, dass du später gut wirst.« Langsam hob sie den Kopf. »Deshalb möchte ich, dass du nicht immer so wütend bist, JR. Schluss mit den Wutanfällen. Schluss mit der Kuscheldecke. Schluss mit dem Betteln um Fernseher und Spielsachen, die sich deine Mutter nicht leisten kann. Du musst dich um deine Mutter kümmern. Hörst du?«
»Ja.«
»Deine Mutter arbeitet wirklich hart, und sie ist sehr müde, und du bist der Einzige, der ihr helfen kann. Der Einzige. Du bist derjenige, auf den sie zählt. Du bist derjenige, auf den ich zähle.«
Jedesmal wenn sie das Wort »du« sagte, klang es wie eine Trammel. Mein Mund wurde trocken, denn eigentlich versuchte ich ja, mein Bestes zugeben, aber Oma hatte eben gesagt, dass sich meine schlimmste Befürchtung erfüllte, die Sache, die mir am meisten Kopfzerbrechen bereitete: Ich versagte. Enttäuschte meine Mutter. Ich versprach Oma, mich mehr anzustrengen, dann entschuldigte ich mich und ging schnell durch den Flur in Onkel Charlies Zimmer.
8 | McGRAW
»Was machst du da?«, fragte mein Cousin McGraw.
Er stand hinten im Garten, schwang einen Schläger gegen einen imaginären Wurf und gab das Geräusch eines Aufpralls von sich, als hätte der Ball getroffen. Ich saß mit dem Radio im Schoß auf der Treppe. Ich war fast neun, McGraw gerade sieben.
»Nichts«, sagte ich.
Ein paar Minuten vergingen.
»Nein, im Ernst«, sagte er. »Was machst du?«
Ich drehte die Lautstärke runter. »Ich will hören, ob mein Vater wieder im Radio ist.«
Nachdem er zwei weitere imaginäre Schläge in die Lücke gelandet hatte, rückte McGraw seinen Mets-Schlaghelm aus Plastik zurecht, den er nie abnahm, und sagte: »Wie würdest du eine Maschine finden, mit der du deinen Vater jederzeit sehen und hören könntest? Wäre das nicht toll?«
McGraws Vater, mein Onkel Harry, ließ sich nur selten blicken, aber seine Abwesenheit schien konkreter als die meines Vaters, denn Onkel Harry wohnte nur eine Ortschaft weiter. Auch waren seine Auftritte bedrohlicher, denn manchmal schlug er Tante Ruth und die Kinder. Einmal kippte er Tante Ruth vor McGraw eine Flasche Wein über den Kopf. Ein andermal zog er sie vor ihren Kindern an den Haaren über den Boden. Sogar mir versetzte er mal eine Ohrfeige, dass mir heiß und kalt wurde.
Nach meiner Mutter war McGraw mein bester Freund und nächster Verbündeter in Opas Haus. Ich stellte ihn oft als meinen Bruder vor, und das war keine Lüge. Ich suchte nach etwas Verlässlicherem als der Wahrheit. Unmöglich, dass McGraw nicht mein Bruder sein sollte, wenn er doch das gleiche Leben führte und von den gleichen Koordinaten gelenkt wurde. Abwesender Vater. Müde Mutter. Zwielichtiger Onkel. Traurige Großeltern.
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