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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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miteinander verbrachten und wir uns immer näher standen, befürchteten wir, ihr könnte der Stoff ausgehen. Irgendwann bewahrheitete sich unsere Angst. Ihr Geschichtenarchiv war erschöpft, und sie musste auf Literatur zurückgreifen. Sie rezitierte lyrische Passagen von Longfellow, ihrem Lieblingsdichter, den sie als Schulmädchen auswendig gelernt hatte. Mir gefiel Longfellow noch besser als die Gebrüder Fritz. Atemlos lauschte ich, wenn Oma Das Lied von Hiawatha aufsagte, starrte sie gebannt an, wenn sie beschrieb, wie der Vater des Indianerjungen kurz nach seiner Geburt verschwand und dann Hiawathas Mutter starb, weshalb der Junge bei seiner Großmutter Nokomis aufwuchs. Trotz Nokomis’ Warnungen und Befürchtungen machte sich Hiawatha auf die Suche nach seinem Vater. Dem Jungen blieb keine andere Wahl. Die Stimme seines Vaters verfolgte ihn im Wind.
    Ich fand Omas Erinnerungen an ihre epischen Brüder und ihre poetischen Vorträge über heroische Männer schön, aber meine liebste Geschichte – und das war mir peinlich, ja, ich schämte mich sogar dafür – handelte von einer Frau, ihrer Mutter Maggie O’Keefe. Als Älteste von dreizehn Kindern musste Maggie ihre Geschwister versorgen, wenn ihre Mutter krank oder schwanger war, und im County Cork wurde sie eine Volksheldin, weil sie so viele Opfer brachte, zu denen auch gehörte, ihre kleine Schwester huckepack zur Schule zu tragen, wenn diese zu faul zum Gehen war. Maggie schwor sich, ihre Schwester sollte Lesen und Schreiben lernen, eine Fähigkeit, nach der sie selbst sich immer gesehnt hatte.
    Was Maggie schließlich bewog, ihre Geschwister und Eltern aufzugehen und um 1800 nach New York zu fliehen, erfuhren wir nie. Wir hatten es unglaublich gern gewusst, denn sie war die Erste in einer langen Reihe von Auswanderern, die Matriarchin eines Clans von Männern und Frauen, die rätselhafte und dramatische Abgänge machten. Doch der Grund für ihr Weggehen muss zu schrecklich und zu schmerzlich gewesen sein, denn Maggie, angeblich eine geborene Erzählerin, hütete ihre Geschichte wie ein Geheimnis.
    Eigentlich hätte Maggie für ihre heimlichen Qualen und ihre vielen guten Eigenschaften ein bisschen Glück verdient, als sie in Ellis Island anlegte. Stattdessen wurde das Leben härter. Sie arbeitete als Dienstmädchen auf einem der großen Anwesen auf Long Island, und als sie eines Tages an einem der oberen Fenster vorbeiging, sah sie einen Gärtner zwischen den Bäumen, der ein Buch las. Er war »schrecklich gutaussehend«, sagte sie Jahre später, und offenbar gebildet. Maggie erwischte es schwer. Sie gestand ihre Liebe einem befreundeten Dienstmädchen, und gemeinsam heckten sie einen Plan aus. Die des Schreibens kundige Freundin sollte Maggies Gedanken festhalten und dann in Liebesbriefe umarbeiten, die Maggie unterschreiben und dem Gärtner, wenn er Rosen beschnitt, in sein Buch stecken wollte. Natürlich war der Gärtner von Maggies Briefen überwältigt, ihre hochhegende Prosa verführte ihn, und nach einer stürmischen Romanze heirateten die beiden. Als er jedoch erfuhr, dass Maggie Analphabetin war, fühlte er sich betrogen und entwickelte einen lebenslangen Groll, den er vorschob, um sein Trinken und seine gewalttätigen Ausbrüche gegen sie zu rechtfertigen – bis seine drei Söhne ihn erwischten und ihm an die Gurgel gingen.
    Als Oma mir einmal spätabends Geschichten erzählte, erschien Opa in der Küche. »Gib mir ein Stück Kuchen«, sagte er zu ihr.
    »Ich bin gerade mitten in einer Geschichte«, entgegnete sie.
    »Gib mir ein verfluchtes Stück Kuchen und lass mich nicht zweimal fragen, verfluchte dumme Frau!«
    Gegenüber seinen Kindern verhielt Opa sich kalt und seine Enkel ließ er meist abblitzen, aber zu Oma war er hässlich. Er setzte sie herab, schikanierte sie, quälte sie zum Spaß, und seine Grausamkeit gipfelte in dem Namen, den er ihr gab. Ich hörte ihn nie Margaret zu ihr sagen. Er nannte sie Dumme Frau, was sich ein wenig wie die Pervertierung bestimmter indianischer Namen in Hiawatha anhörte – zum Beispiel Großer Bär oder Lachendes Wasser. Ich konnte nicht begreifen, warum Oma sich so schlecht von ihm behandeln ließ, weil ich ihre große emotionale und finanzielle Abhängigkeit von ihm nicht verstand. Opa verstand sie sehr wohl und nutzte sie aus, indem er Oma genauso zerlumpt herumlaufen ließ wie sich. Von den vierzig Dollar Haushaltsgeld, die er ihr pro Woche gab, blieb nichts übrig für ein neues Kleid oder

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