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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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fand. Beides benutzte ich, um meine Isolation aufzuwiegen. Ich fing an, Platten von Frank Sinatra zu hören und dabei ein – so nannte ich es – Familienblatt zu erstellen. Die erste Nummer rollte Anfang 1974 aus der Presse und enthielt ein »Portrait« meiner Mutter auf der Titelseite samt einer vier Zeilen langen Analyse der Nixon-Regierung. Es gab auch einen kurzen Leitartikel, der den internationalen Handel mit »Marrihanna« niedermachte sowie eine kurze verworrene Zusammenfassung des Zerwürfnisses in unserer Familie. Das erste Exemplar schenkte ich Opa. »Familienblatt?«, sagte er verwundert. »Dass ich nicht lache! Das ist doch keine Fam …, Fam …, Familie.«
    Wenn die nächste Ausgabe des Familienblattes fertig war, setzte ich mich oft aufs Fahrrad und fuhr die steile Park Avenue hoch, dem Sitz der ältesten und meiner Ansicht nach schönsten Häuser. Ich fuhr vor einem prächtigen alten Anwesen auf und ab, spähte durch die Fenster und sinnierte über das Rätsel des Lebens – reinkommen. Ich roch den Holzrauch, der aus dem Kamin stieg, fand ihn herrlich berauschend. Reiche Leute kauften offenbar in einem Geschäft ein, in dem es extra duftendes Kaminholz gab. Und in eben jenem Geschäft wurden offenbar auch magische Lampen verkauft. Bei reichen Leuten war natürlich alles vom Feinsten – ob Porzellan, Gardinen oder Zähne – aber sie besaßen auch Lampen, die ein unglaublich weiches Licht warfen. Bei Opa dagegen gab jede Lampe das hirnschädigende grelle Licht eines Suchscheinwerfers im Gefängnis ab.
    Bei meiner Rückkehr beklagte ich mich bei Oma wieder über meine Einsamkeit. »Setz dich auf einen Stuhl und schau in den Himmel …« Schließlich ging ich in den Keller.
    Opas Keller war, genau wie die Bar, dunkel, kühl und für Kinder strengstens verboten. Im Keller donnerte der Heizofen, lief die Sickergrube über und es wuchsen dort Spinnweben so groß wie Thunfischnetze. Vorsichtig ging ich die wacklige Treppe hinunter, innerlich bereit, die Flucht zu ergreifen, sobald etwas über den Betonboden huschte, doch schon nach wenigen Minuten empfand ich den Keller als ideales Versteck und einzigen Teil in Opas Haus, der mir Ruhe und Abgeschiedenheit bot. Dort unten konnte mich niemand finden, und der Heizofen vermochte den Wahnsinn der Erwachsenen oben besser zu übertönen als die Stimme.
    Mutig drang ich in die abgelegenen Kellerecken vor und entdeckte seine größte Attraktion, die verborgenen Schätze. In Schachteln verstaut, auf Tischen gestapelt, in Koffer und Überseekisten gepackt waren Aberhunderte Romane und Biografien, Lehrbücher und Kunstbände, Memoiren und Ratgeber, alle zurückgelassen von verschiedenen Generationen und abgekappten Familienzweigen. Ich weiß noch, wie mir der Atem stockte.
    Ich liebte diese Bücher auf der Steile, und diese Liebe hatte meine Mutter in die Wege geleitet. Von meinem neunten Lebensmonat an bis ich zur Schule kam, hatte mich meine Mutter kontinuierlich das Lesen gelehrt und dazu hübsche Lernkarten verwendet, die sie bestellte. Mir blieben diese Karten stets klar und lebendig in Erinnerung wie Schlagzeilen, die hellroten Buchstaben auf cremefarbenem Grund, und dahinter das Gesicht meiner Mutter mit denselben hübschen Farben, dem hellen rosigen Teint, umgeben von rotbraunem Haar. Mir gefiel, wie die Wörter aussahen, ihre Form, die unterschwellige Verbindung der Schrift mit dem hübschen Gesicht meiner Mutter, aber vielleicht lag es auch nur an der Funktionalität, die mich für sie einnahm. Wörter vermochten meine Welt zu organisieren, brachten Ordnung in Chaos, trennten Dinge säuberlich in Schwarz und Weiß. Wörter halfen mir sogar, meine Eltern einzuteilen. Meine Mutter war das gedruckte Wort – greifbar, anwesend, real –, während mein Vater das gesprochene Wort verkörperte – unsichtbar, flüchtig, ein Teil der Erinnerung. Für mich hatte diese strenge Symmetrie etwas Tröstliches.
    In diesem Moment jedenfalls, im Keller, kam ich mir vor, als stünde ich bis zur Brust in einem Gezeitenbecken voller Wörter. Ich öffnete das größte und schwerste Buch, eine Geschichte über die Entführung des Lindbergh-Babys. Angesichts der Warnungen meiner Mutter vor meinem Vater fühlte ich mich dem Baby verbunden. Ich betrachtete die Fotos von dem kleinen Leichnam. Und ich lernte das Wort Lösegeld, worunter ich zunächst etwas Ähnliches wie Kindesunterhalt verstand.
    Viele der Bücher im Keller waren zu anspruchsvoll für mich, doch das störte mich

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