Tender Bar
Bewusstsein, dass er einer der Menschen in diesem Haus war, die meinen Schutz brauchten. Auf jedem Foto aus jenen Jahren liegt meine Hand auf seiner Schulter, halte ich sein Hemd fest, als wäre er mein Schützling, mein Mündel.
Eines Tages wurde McGraw weggekarrt, um seinen Vater zu besuchen, aber es war nicht der typische Barüberfall. Sie verbrachten Zeit miteinander, aßen Cheeseburger, unterhielten sich. McGraw durfte sogar den Zug steuern. Als er zurückkam, drückte er eine Einkaufstüte an die Brust. Sie enthielt eine der Zugschaffnermützen seines Vaters, groß und schwer wie eine Obstschale. »Die gehört meinem Dad«, sagte McGraw, nahm den Mets-Helm ab und setzte die Schaffnermütze auf. Der Schirm fiel ihm über die Augen, das Band hing unter den Ohren.
In der Einkaufstüte waren außerdem Hunderte von Fahrkarten. »Sieh mal!«, sagte McGraw. »Die können wir nehmen und irgendwohin fahren. Wohin wir wollen! Ins Shea Stadium!«
»Die sind doch gelocht«, sagte ich. Ich wollte seine Begeisterung dämpfen, weil ich neidisch war, dass er seinen Vater gesehen hatte. »Die taugen nichts, Dummkopf.«
»Mein Vater hat sie mir geschenkt.«
Er riss mir die Einkaufstüte aus der Hand.
Mit seiner Schaffnermütze und einem Gürtel für Wechselgeld, den ihm sein Vater ebenfalls geschenkt hatte, ernannte sich McGraw zum Schaffner im Wohnzimmer. Er stapfte hin und her, imitierte den Draht-seilgang eines Schaffners, der durch einen fahrenden Zug schwankt, obwohl er eher aussah wie Onkel Charlie, wenn er aus dem Dickens zurückkam. »Fahrkarten!«, rief er. »Alle Fahrkarten. Nächster Halt – Penn Station!« Dann mussten wir alle in unseren Taschen nach Kleingeld suchen, ohne Ausnahme, wenngleich Oma sich viele Fahrten auf dem zweihundertjährigen Sofa mit Keksen und einem Glas kalter Milch erkaufte.
Tante Ruth zog schließlich die Notbremse bei McGraws Wohnzimmerlokomotive. Sie sagte ihm, sie verklage seinen Vater auf Kindesunterhalt und er müsse vor Gericht aussagen. McGraw sollte in den Zeugenstand treten und auf die Heilige Bibel schwören, dass Onkel Harry seine Frau und sechs Kinder verhungern ließ. McGraw stöhnte, hielt sich die Ohren zu und rannte zur Hintertür hinaus. Ich rannte ihm nach und fand ihn, auf der Erde sitzend, hinter der Garage. Er brachte kaum ein Wort heraus. »Ich soll aufstehen und schlechte Dinge über meinen Vater sagen!«, sagte er. »Dann will er mich bestimmt nie wieder sehen! Ich werde meinen Vater nie mehr wiedersehen!«
»Nein«, beruhigte ich ihn. »Wenn du nicht willst, musst du nichts Schlechtes über deinen Vater sagen.« Bevor ich das zuließ, würde ich ihn lieber zum Shelter Rock schmuggeln.
Der Fall kam nie vor Gericht. Onkel Harry gab Tante Ruth etwas Geld, und die Krise ging vorüber. Danach jedoch sahen sich McGraw und sein Vater lange Zeit nicht mehr. McGraw nahm unauffällig die Schaffnermütze ab, setzte seinen Mets-Helm auf, und alle durften das zweihundertjährige Sofa wieder umsonst benutzen.
In dem Ersatzbett, das in der hinteren Ecke von Opas Zimmer stand und das McGraw und ich uns teilten, lagen wir nachts oft wach und redeten über alles, nur nicht über das Thema, das uns verband und sich immer wieder ohne unser Zutun aufdrängte. Opa schlief gern bei laufendem Radio, und so ließ mich alle paar Minuten die tiefe Stimme eines Ansagers aufhorchen und zuhören. Und bei jedem Zug, der in der Ferne vorbeifuhr, hob McGraw den Kopf. War McGraw eingeschlafen, lauschte ich dem Radio und den Zügen und sah zu, wie das Mondlicht durchs Fenster schien und in breiten kanariengelben Streifen auf McGraws rundes Gesicht fiel. Dann dankte ich Gott für meinen Cousin und fragte mich besorgt, was ich wohl ohne ihn tun würde.
Und dann war er fort. Tante Ruth zog mit ihren Kindern in ein Haus mehrere Kilometer weiter an der Plandome Road. Auch sie war entschlossen, diesem Haus zu entkommen, obwohl es nicht mit den Zuständen oder der Enge zusammenhing. Nach einem schlimmen Streit mit Oma und Opa packte sie wutentbrannt ihre Sachen, ließ sich nicht mehr blicken und hielt auch ihre Kinder von uns fern. Sie durften nicht zu Besuch kommen.
»Hat Tante Ruth McGraw und seine Schwestern gekidnappt?«, fragte ich Opa.
»Das könnte man sagen.«
»Kommt sie irgendwann mit ihnen zurück?«
»Nein. Sie hat, ähm, ein Embargo gegen uns verhängt.«
»Was ist ein Embargo?«
1973 hatte ich das Wort ziemlich oft gehört. Es gab ein Embargo des Nahen Ostens, und das hieß,
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