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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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nicht. Mir genügte es, sie zu bewundern, bevor ich sie lesen konnte. In einem Pappkarton stapelte sich eine prachtvolle, in Leder gebundene Dickens-Werkausgabe, und aufgrund der Bar schätzte ich diese Bücher über alle anderen und wollte unbedingt erfahren, was in ihnen stand. Sehnsuchtsvoll starrte ich auf die Zeichnungen, besonders von David Copperfield, in meinem Alter, in einer Bar. Die Kapitelüberschrift hieß: »Meine erste Ausschweifung.«
    »Wovon handelt das?«, fragte ich Opa und reichte ihm Große Erwartungen.
    Wir frühstückten gerade mit Oma.
    »Von einem Jungen mit großen Er …, Er …, Erwartungen«, sagte er. »Was sind – Erwartungen?«
    »Ein F …, Fluch.«
    Verwirrt aß ich einen Löffel Haferflocken.
    »Zum Beispiel«, sagte er. »Als ich deine Großmutter hei …, hei …, heiratete, hatte ich große Er …, Er …, Erwartungen.«
    »Das ist ja eine feine Art, mit deinem Enkel zu reden«, sagte Oma. Opa lachte bitter. »Heirate nie, um Sex zu haben«, sagte er zu mir.
    Ich aß noch einen Löffel Haferflocken und bedauerte, dass ich gefragt hatte.
    Zwei Bücher aus dem Keller wurden meine ständigen Gefährten. Das erste war Rudyard Kiplings Dschungelbuch, in dem ich Mowgli kennen lernte, der für mich genauso ein Cousin war wie McGraw. Ich verbrachte Stunden mit Mowgli und seinen adoptierten Vätern, dem freundlichen Bär Balu und dem weisen Panther Baghira, die beide wollten, dass Mowgli Anwalt wird. So verstand ich es zumindest. Ständig wollten sie, dass Mowgli das Gesetz des Dschungels lernte. Das zweite Buch war ein bröckelnder alter Band aus den 1930ern mit dem Titel Minuten-Biografien. Die karamellfarbenen Seiten enthielten eine Fülle prägnanter Lebensgeschichten und Federzeichnungen von großen Männern, die Geschichte machten. Mir gefiel außerdem die großzügige Verwendung von Ausrufezeichen. Rembrandt – Maler, der mit den Schatten spielte! Thomas Carlyle – Ein Mann, der die Arbeit ehrte! Lord Byron – Der Playboy Europas! Und ich mochte die beruhigende Formel: Jedes Leben begann in Elend und führte unaufhaltsam zu Ruhm. Stundenlang starrte ich in die Augen von Caesar und Machiavelli, Hannibal und Napoleon, Longfellow und Voltaire; und ich prägte mir die Seite ein, die Dickens gewidmet war, dem Schutzpatron aller verlassenen Jungen. Im Buch war die gleiche Silhouette von ihm abgebildet, die bei Steve über der Bar hing.
    Eines Tages war ich so vertieft in das Buch, dass ich Oma nicht bemerkte, die über mir stand und einen Dollar hielt. »Ich hab dich überall gesucht«, sagte sie. »Onkel Charlie hat einen Nikotinanfall. Lauf schnell zur Bar und hol ihm eine Schachtel Marlboro Reds.«
    Ich sollte ins Dickens gehen? In die Bar? Ich griff nach dem Geld, klemmte mir die Minuten-Biografien unter den Arm und rannte zur Ecke.
    Vor der Bar blieb ich allerdings stehen. Meine Hand ruhte auf dem Türgriff, mein Herz raste, und ich wusste nicht warum. Ich fühlte mich von der Bar angezogen, aber die Anziehungskraft war so groß, so unwiderstehlich, dass ich dachte, sie könnte gefährlich sein, genau wie das Meer. Oma las mir aus den Daily News oft Artikel vor, in denen Schwimmer von Ripptiden ins Meer gerissen wurden. Genauso musste sich eine Ripptide anfühlen. Ich holte tief Luft, öffnete die Tür und tauchte ein. Die Tür knallte hinter mir zu, ich stand eingehüllt in Dunkelheit. In einer Nische. Vor mir befand sich eine zweite Tür. Ich zog am Griff, die rostigen Scharniere quietschten. Ich trat ein und stand in einer langen schmalen Höhle.
    Kaum hatten sich meine Augen an die Beleuchtung gewöhnt, sah ich, dass die Luft ein ausnehmend schönes Hellgelb war, obwohl ich keine Lampen oder andere Lichtquellen entdeckte. Die Luft hatte die Farbe von Bier, roch nach Bier und jeder Atemzug schmeckte nach Bier – malzhaltig, schäumend, dick. Durch den Biergeruch drang der Mief von Korruption und Verfall, gar nicht unangenehm, eher wie ein alter Wald, in dem modriges Laub und Erde den Glauben an den endlosen Kreislauf des Lebens erneuerten. In der Luft hing auch eine Spur von Parfüm und Eau de Cologne, Haarwasser und Schuhcreme, Zitronen, Steaks, Zigarren, Zeitungen – und eine Spur Seewasser von der Manhasset Bay. Meine Augen tränten, genau wie im Zirkus, dort verströmte die Luft einen ähnlich animalischen Moschusduft.
    Auch die vielen weißgesichtigen Männer mit ihren rötlichen Haaren und roten Nasen erinnerten an den Zirkus. Da war der Mann, dem die Uhrenwerkstatt

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