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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Manhasset entfernt. Ich werde weiter die fünfte Klasse der Shelter Rock besuchen, erklärte sie, und nach der Schule vom Bus bei Opa abgesetzt, aber wenn sie abends mit der Arbeit fertig wäre, würden wir zurückfahren in unser neues – Heim.
    Meine Mutter liebte unsere Bleibe in Great Neck mehr als jede andere Wohnung, in die wir geflohen waren. Die Hartholzböden, die hohe Decke im Wohnzimmer, die von Bäumen gesäumte Straße – jede Einzelheit war ihr lieb und teuer. Sie möblierte die Wohnung so gut sie konnte mit ausrangierten Sachen aus den kürzlich renovierten Wartezimmern des Krankenhauses, mit Schrott, den man dort wegwerfen wollte. Wir saßen mit den gleichen angespannten Gesichtern auf den harten Plastikstühlen wie die Leute, die noch vor kurzem darauf gesessen hatten. Auch wir waren auf schlechte Nachrichten gefasst, nur ging es in unserem Fall um eine unerwartete Autoreparatur oder eine Mieterhöhung. Ich befürchtete, dass es diesmal anders wäre, wenn es so weit käme und meine Mutter feststellen würde, dass wir die Wohnung in Great Neck aufgeben und zu Opa zurückkehren müssen. Diesmal würde die Enttäuschung sie niederschmettern.
    Ich wurde ein chronischer, beständiger Schwarzseher, im Gegensatz zu meiner Mutter, die ihre Ängste nach wie vor durch das Aussprechen positiver Bekräftigungen (»Alles wird gut, Schatz!«) und Singen vertrieb. Manchmal ließ ich mir von ihr weismachen, dass sie vor nichts Angst hatte, bis ich einen Schrei aus der Küche hörte und losrannte, um sie auf einem Stuhl stehend und auf eine Spinne zeigend vorzufinden. Während ich die Spinne tötete und sie durch den Flur zur Abfallrutsche brachte, schärfte ich mir ein, dass meine Mutter nicht sehr mutig und ich der Mann im Haus war; danach machte ich mir doppelt so viel Sorgen.
    Ungefähr einmal im Jahr ließ meine Mutter ihren vorgetäuschten Optimismus gänzlich fallen, vergrub ihr Gesicht in den Händen und schluchzte. Ich nahm sie dann in den Arm und versuchte sie aufzumuntern, indem ich meinerseits ihre positiven Bekräftigungen wiederholte. Ich glaubte nicht daran, aber meiner Mutter schienen sie zu helfen. »Du hast völlig recht, JR«, sagte sie schniefend. »Morgen ist wirklich ein neuer Tag.« Kurz nach unserem Umzug jedoch wurde ihr jährlicher Weinkrampf ungewohnt heftig, und ich griff zu Plan B. Ich hielt einen Monolog, den ein Komiker in der Men, Griffin Show gehalten und den ich mir auf ein loses Blatt Papier geschrieben und für genau so eine Situation in mein Schulbuch gesteckt hatte.
    »Hey Leute!«, sagte ich – vom Blatt ablesend. »Freut mich, hier zu sein. Freut mich, hier zu sein. Das ist keine Lüge. Nein wirklich, ich hasse Lügner. Mein Vater war einer. Hat mir immer erzählt, er hätte ein Händchen fürs Transportwesen – dabei hat er an der Straße nur den Daumen rausgehalten, um durchs Land zu trampen!«
    Meine Mutter ließ ihre Hände langsam vom Gesicht sinken und starrte mich an.
    »Jawohl«, fuhr ich fort. »Mein Vater sagte immer, unsere Wohnzimmermöbel gingen auf Louis den XIV. zurück. Dabei wären sie nur an Louie zurückgegangen, wenn wir nicht bis zum vierzehnten gezahlt hätten!«
    Meine Mutter zog mich zu sich heran und sagte, sie fände es schlimm, mich so erschreckt zu haben, aber sie könne nicht anders. »Ich bin so müde«, sagte sie. »Müde, mir ständig Sorgen zu machen und mich abzustrampeln, und vor allem dieses – Alleinsein.«
    Alleinsein. Ich war nicht beleidigt. Obwohl meine Mutter und ich uns nahe standen, führte der fehlende Mann in unserem Leben dazu, dass jeder von uns sich gelegentlich einsam fühlte. Manchmal fühlte ich mich so allein, dass ich mir wünschte, es gäbe ein stärkeres, längeres Wort dafür. Als ich mit Oma über dieses Grundgefühl reden wollte, über meinen Verdacht, dass mir das Leben Teile von mir wegnahm, erst die Stimme, dann McGraw, verstand sie mich falsch. Sie sagte, es sei eine Sünde, über Langeweile zu klagen, während so viele Menschen alles dafür geben würden, wenn Langeweile ihr einziges Problem wäre. Ich sagte, dass ich mich nicht langweilte, sondern einsam fühlte. Worauf sie erwiderte, ich sei eben doch nicht der starke Mann, den sie so gern in mir gesehen hätte. »Setz dich auf einen Stuhl und schau in den Himmel«, sagte sie. »Und dann danke Gott, dass du gesund bist.«
    Ich ging nach oben und durchwühlte einen Kriechgang, in dem ich einen Plattenspieler und eine manuelle Schreibmaschine aus den 1940ern

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