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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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später.«
    Wir waren noch nie länger als drei Tage getrennt gewesen, und jetzt schlug meine Mutter gleich drei Monate vor? Ich wollte mich mit ihr anlegen, doch das Thema stand nicht zur Debatte. Unsere Zwei-Personen-Demokratie war in eine wohlwollende Diktatur zurückgefallen. Auch gut. Meine Mutter hätte mir ohnehin nicht abgenommen, wenn ich ihr erzählt hätte, dass mich die Aussicht, McGraw und die Cousinen wiederzusehen, nicht freute. Ein so guter Lügner war ich noch nicht.
    Am Abend vor meiner Abreise schrieb mir meine Mutter, während ich schlief, einen Brief, den ich im Flugzeug lesen sollte. Sie schrieb, ich solle gut auf Oma aufpassen und schön mit McGraw und den Cousinen spielen; ich würde ihr schrecklich fehlen, aber sie sei sicher, dass Manhasset der richtige Ort für mich war. »Ich kann mir kein Sommerlager für dich leisten«, schrieb sie. »Also wird Manhasset dein Sommerlager.«
    Wir ahnten beide nicht, dass sie mich ins Camp Dickens schickte.
     
     
     
12 | COLT, BOBO UND JOEY D
     
     
    Ich war ungefähr zwei Wochen in Manhasset, als es geschah. Ich warf meinen Gummiball gegen die Garage und war Tom Seaver, der mal wieder einen Slideball über die äußerste Ecke der Base zielte und so schon das siebte Spiel gewann, als ich durch den Jubel der Menge – der Wind fegte durch die Äste – meinen Namen hörte. Ich blickte auf.
    »Hörst du nicht, dass ich dich rufe?«, sagte Onkel Charlie. »Himmel noch mal.«
    »Tut mir leid.«
    »Gilgamesch.«
    »Wie bitte?«
    Er seufzte und redete übertrieben langsam, sprach jede Silbe deutlicher aus als gewöhnlich. »Gilgo Beach. Möchtest du zum Gilgo Beach?«
    »Wer?«
    »Du.«
    »Mit wem?«
    »Mit deinem Onkel. Was ist eigentlich los mit dir?«
    »Nichts.«
    »Wie schnell kannst du fertig sein?«
    »Fünf Minuten.«
    »Falsch.«
    »Zwei?«
    Er nickte.
    Das Haus war leer. Oma war einkaufen. Opa machte einen Spaziergang, und McGraw und die Cousinen waren, obwohl sie in der Nähe wohnten, aufgrund eines neuen Streits zwischen Tante Ruth und Oma nie da. Konnte ich wirklich mit zum Strand, ohne jemandem Bescheid zu sagen? Meine Mutter hatte mich mehrmals gewarnt, bevor ich Arizona verließ: Ohne Erlaubnis gehst du nirgendwohin. Sie machte sich nach wie vor Sorgen, ich könnte entführt werden, und Oma wiederholte ihre Warnungen ziemlich oft. Ich ahnte nicht, dass meine Mutter und Oma Onkel Charlie ausdrücklich gebeten hatten, etwas mit mir zu unternehmen, weil ich zu oft allein war und mich beklagt hatte, wie sehr mir meine Mutter fehlte. Sie hatten sich hilfesuchend an Onkel Charlie gewandt und angenommen, er würde mir alles erklären. Allem Anschein nach war ihnen nicht klar, dass Onkel Charlie, genau wie Tante Ruth, keine Erklärungen gab.
    Ich zog meine Badehose unter meine Jeans an, packte ein Handtuch und eine Banane in eine Lebensmitteltüte, dann setzte ich mich auf die Treppe, um nachzudenken. Aber dazu blieb mir keine Zeit. Onkel Charlie kam über den Rasen und trug seine Version von Strandkleidung: Bing-Crosby-Golfhut, Foster-Grant-Sonnenbrille, Jeans. Er glitt hinter das Steuer seines alten schwarzen Cadillacs, den er gerade einem Freund von Steve abgekauft hatte. Er vergötterte den Wagen. Ich sah zu, wie er den Rückspiegel zärtlich einstellte, so als streiche er einem geliebten Menschen eine Haarlocke aus der Stirn. Dann rückte er seine Hutkrempe zurecht, zündete eine Marlboro an und startete den Motor. Der Caddy schlingerte, als er den Gang einlegte. Es war so weit. Ich hielt die Luft an und rannte los. Als ich die Tür öffnete und auf den Beifahrersitz hechtete, fuhr Onkel Charlie erschrocken hoch. »Oh«, sagte er. »Richtig.« Wir sahen einander an. »Geh lieber nach hinten.«
    »Warum?«
    »Wir bekommen noch Mitfahrer.«
    Ich setzte mich auf den hohen Höcker in der Mitte des Rücksitzes, wie ein Prinz, der in einer Rikscha gezogen wird, und dann fuhren wir die Plandome Road entlang, vorbei am Dickens und am Memorial Field. Am Südende der Stadt hielten wir vor einem Haus, in dem sämtliche Vorhänge und Rollos geschlossen waren. Onkel Charlie hupte. Aus einer Seitentür erschien ein Mann, ungefähr zehn Jahre jünger als Onkel Charlie, mit glänzendem schwarzem Haar und schläfrigen schwarzen Augen. Mit seiner robusten Statur, den breiten Schultern und der kräftigen Brust sah er aus wie ein junger Dean Martin. Ich meinte, ihn als einen der Softballspieler zu erkennen, die ich vor Jahren gesehen hatte, obwohl er jetzt ganz

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