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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Sinatra«, sagte ich zu Onkel Charlie.
    »Jeder mag Sinatra«, erwiderte er. »Nicht umsonst nennt man ihn die Stimme.«
    Ihm entging mein schockiertes Gesicht.
    Bald war es Zeit für Onkel Charlie und mich, nach Hause zu gehen. Ich kämpfte gegen meine Tränen an, denn ich wusste, Onkel Charlie würde nur duschen und wieder in die Bar gehen, während mich ein wortkarges, ungenießbares Essen mit Oma und Opa erwartete. Die Ripptide von Opas Haus entriss mich der Bar und den Männern.
    »War ein großes Vergnügen, dich heute mit am Strand zu haben«, sagte Joey D. »Du musst wieder mitkommen, Kleiner.«
    Dumusstwiedermitkommenkleiner.
    »Mach ich«, sagte ich, noch während ich mit Onkel Charlie durch die Hintertür nach draußen ging. »Ganz bestimmt«
    In jenem Sommer ging ich jeden Tag an den Strand, sofern Wetter und Katerstimmung es zuließen. Morgens beim Aufwachen schaute ich als Erstes nach dem Himmel, dann fragte ich Oma, wann Onkel Charlie aus dem Dickens nach Hause gekommen war. Klarer Himmel und früher Abend bei Onkel Charlie bedeuteten Bodysurfen mit Joey D gegen Mittag. Wolken oder eine späte Nacht bedeuteten zweihundertjähriges Sofa und Schmökern in den Minuten-Biografien.
    Je mehr Zeit ich mit Onkel Charlie verbrachte, umso ähnlicher wurde ich ihm: Ich redete wie er, ging wie er, ahmte seine Manieriertheiten nach. Ich legte eine Hand an die Schläfe, wenn ich in Gedanken versunken war. Ich stützte mich beim Kauen auf die Ellbogen. Und ich suchte seine Nähe, versuchte ihn in Gespräche zu verwickeln. Ich stellte mir das ganz leicht vor. Wenn wir unsere Zeit gemeinsam am Gilgo Beach verbringen, sind wir doch Freunde, oder? Aber Onkel Charlie machte seinem Vater alle Ehre.
    Eines abends traf ich ihn allein am Esstisch; er las Zeitung und aß ein T-Bone-Steak. Ich setzte mich zu ihm. »Wirklich schade, dass es regnet«, sagte ich.
    Er fuhr zusammen und presste eine Hand auf sein Herz. »Himmel, wo kommst du denn her?«, sagte er.
    »Aus Arizona. Ha.«
    Nichts.
    Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. »Wirklich schade, dass es regnet«, wiederholte ich.
    »Mir gefällt’s«, sagte er, ohne von der Zeitung aufzublicken. »Passt zu meiner Stimmung.«
    Ich rieb nervös meine Hände aneinander.
    »Ist Bobo heute Abend im Dicken?«, fragte ich.
    »Falsch.« Blick noch immer auf die Zeitung gerichtet. »Bobo ist auf der Verletztenliste.«
    »Was macht Bobo eigentlich in der Bar.«
    »Kochen.«
    »lst Wilbur da?«
    »Wilbur ist im Zug.«
    »Ich mag Wilbur.«
    Keine Antwort.
    »Ist Colt da?«
    »Falsch. Colt geht zu den Yankees.«
    Schweigen.
    »Colt ist komisch«, sagte ich.
    »Ja«, sagte Onkel Charlie ernst. »Colt ist komisch.«
    »Onkel Charlie, darf ich mir das nächste Karambolage-Derby auf der Plandome Road ansehen?«
    »Auf der Plandome Road ist jeden Abend ein Karambolage-Derby«, sagte er. »Die ganze Stadt ist berauscht. Ich darf doch ›berauscht‹ sagen, oder?«
    Ich überlegte. Ich wollte eine möglichst gute Antwort finden. Nach einer geschlagenen Minute sagte ich: »Ja.«
    Er blickte von der Zeitung auf und sah mich an. »Was?«, fragte er. »Du darfst ›berauscht‹ sagen.«
    »Aha.« Er widmete sich wieder der Zeitung.
    »Onkel Charlie?«, sagte ich. »Warum hat Steve die Bar Dickens genannt?«
    »Weil Dickens ein großer Schriftsteller war. Steve liebt offenbar Schriftsteller.«
    »Und warum ist er so groß?«
    »Er schrieb über Leute.«
    »Schreiben nicht alle über Leute?«
    »Dickens schrieb über exzentrische Leute.«
    »Was ist exzentrisch?«
    »Einzigartig. Ein Original.«
    »Ist nicht jeder einzigartig?«
    »Um Himmels willen, nein, Kleiner! Das ist doch genau das Problem.« Er wandte sich wieder zu mir. Sah mir fest ins Gesicht. »Wie alt bist du?«
    »Elf.«
    »Für einen Elfjährigen stellst du wirklich viele Fragen.«
    »Meine Lehrerin sagt, ich bin wie Joe Friday. Ha.«
    »Hm.«
    »Onkel Charlie?«
    »Ja?«
    »Wer ist Joe Friday?«
    »Ein Cop.«
    Langes Schweigen.
    »Elf«, sagte Onkel Charlie. »Ach, ein großartiges Alter.« Er kippte Ketchup auf sein T-Bone-Steak. »Werd bloß nicht älter. Egal, was du tust, bleib elf. Rühr dich nicht von der Stelle. Kapiert?«
    »Kapiert.«
    Wenn Onkel Charlie mir gesagt hätte, ich solle loslaufen und ihm etwas vom Mond holen, hätte ich es gemacht, keine Frage, aber wie sollte ich elf bleiben? Ich rieb die Hände fester aneinander.
    »Werden die Mets heute Abend gewinnen?«, fragte er und überflog

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