Tender Bar
über den Marineinfanteristen. Als ich auf die kahlen Stellen in ihren Kurzhaarschnitten hinabsah, dachte ich: Jetzt an die frische Luft. JetztandiefrischeLuft.
Wie Frankenstein wankte ich zum Hinterausgang. Die Tür klemmte. Ich drückte. Die Tür gab nach und ich fiel in eine schmale Gasse. Eine Backsteinmauer. Ich drückte meinen Rücken an die Mauer. Ach Mauer. Zuverlässige Mauer. Halt mich fest, Mauer. Ich glitt nach unten. An die Mauer gelehnt ließ ich den Kopf nach hinten sinken und versuchte zu atmen. Die Luft fühlte sich erfrischend an. Wie ein Wasserfall. Eine ganze Weile hielt ich mein Gesicht in die Luft, bis ich merkte, dass ich direkt unter einem Rohr saß, aus dem eine grünliche Flüssigkeit spritzte. Ich wälzte mich zur Seite. Die Straßenlichter machten bunte Windrädchen auf den öligen Pfützen in der Gasse. Ich weiß nicht, wie lange ich den Windrädchen zuschaute – eine Stunde? fünf Minuten? –, aber als ich die Kraft fand, aufzustehen und wieder in die Kneipe zu gehen, war Sheryl nicht erfreut. »Ich hab dich überall gesucht«, sagte sie.
»Gasse«, sagte ich.
»Du siehst nicht gut aus.«
»Mir geht’s auch nicht gut. Wo ist die Bravo Company?«
»Hat sich zurückgezogen, als sie merkte, dass ich kein Iwo Jima bin.«
Auf der Rückfahrt nach Manhasset fiel mir zum ersten Mal auf, wie schlecht Sheryl Auto fuhr. Sie beschleunigte, wurde langsam, wechselte die Spuren, kam vor roten Ampeln schlingernd zum Stehen. Vor Opas Haus war ich seekrank. Ich wartete nicht ab, bis Sheryl richtig in der Einfahrt stand. Ich sprang aus dem rollenden Auto, rannte ins Haus und übergab mich im Badezimmer. Dann kroch ich ins Bett und klammerte mich an die Matratze, die sich wie ein Soufflé langsam hob. Sheryl kam herein und setzte sich auf den Matratzenrand, obwohl er drei Meter über dem Boden war. Sie sagte, ich würde das ganze Haus wecken. Hör auf zu stöhnen, sagte sie. Mir war nicht bewusst, dass ich stöhnte.
»Herzlichen Glückwunsch!«, sagte sie oder versuchte es zumindest. Es kam heraus wie: Herzichengelückunschl »Ins Publicans eingeschlichen. Aus dem Publicans geflogen. Mit M’trosen getrunken. Erste Schigarette geraucht. Bin sehr schtolsch auf dich. Sehr schtolsch.«
»Bist du der Teufel?«
Sie ging aus dem Zimmer.
»Hey«, rief ich. »Warum hast du mit Jedd Schluss gemacht?« Ihre Antwort hörte ich nicht, sofern sie eine gab.
Irgendwo im Haus lief ein Radio. Count Basics »One O’Clock Jump«. Schönes Stück, dachte ich. Aber dann wurde mir von dem hüpfenden Rhythmus noch übler. Ob ich mich je wieder so weit erholen würde, dass ich gern Musik hörte? Ich versuchte einzuschlafen, aber mein Kopf schwirrte von Wörtern und Gedanken. Ich bildete mir ein, unglaubliche Geistesblitze zu haben und wollte sie aufschreiben. Aber ich kam nicht aus dem Bett, weil die Matratze immer noch stieg. Wie lange konnte es noch dauern, bis mein Rücken an die Decke gepresst wurde? Ich kam mir vor wie ein Auto auf einer hydraulischen Hebebühne. Ausgestreckt auf dem Bauch, den Kopf über dem Bettrand hängend, übergab ich meine Geistesblitze der Erinnerung. Ich dachte: Meine Mutter ist das gedruckte Wort, mein Vater ist das gesprochene Wort, Sheryl ist das schleppende Wort. Dann wurde alles schwarz.
Am Morgen wachte ich aus einem Alptraum auf, in dem Marineinfanteristen Opas Haus stürmten und die Abzeichen an ihren Ärmeln benutzten, um das zweihundertjährige Sofa neu zu kleben. Ich nahm eine lange heiße Dusche, dann setzte ich mich mit einer Tasse schwarzen Kaffee auf die Treppe. Als Onkel Charlie herauskam, schaute er mich böse an. Ich machte mich schon auf einiges gefasst, doch er sah meine blutunterlaufenen Augen und dachte wahrscheinlich, ich hätte schon genug gelitten. Er schüttelte nur den Kopf und blickte in die Baumwipfel.
»Jetzt kann ich uns von den Kneipen in Roslyn nach Hause fahren«, sagte ich zu Sheryl und zeigte ihr meinen neuen Führerschein, den mir meine Mutter geschickt hatte. Wir saßen im Frühzug, gegen Ende August, und Sheryl hob den Führerschein ins Fensterlicht, um ihn besser sehen zu können. Sie las: »›Größe: einsachtundsiebzig. Gewicht: 63 Kilo. Haarfarbe: rotbraun. Augen: hellbraun‹,« Sie lachte. »Hübsches Foto«, sagte sie. »Du siehst aus wie zwölf. Nein. Streich das. Elf. Was schreibt deine Mutter in dem Brief?«
Ich las: »›Ich lege die Versicherungskarte bei, Schatz, denn wenn du jemals in einen Unfall verwickelt bist, musst du
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