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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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bewältigte, trug viel zur Bestimmung des Männlichkeitsquotienten bei. Ich erzählte ihr von Lana, einem Mädchen in Arizona, das in der Highschool-Hierarchie weit über mir stand. Lanas Haare waren schmutzigblond, sowohl was Farbe und Sauberkeit betraf. Sie wusch es nicht jeden Tag, was ihr einen zerzausten, schlüpfrigen Sexappeal verlieh. Die Strähnen wippten auf ihren Schultern, wenn sie durch die Gänge lief, die Brust vorgestreckt wie ein Kadett. Ihre Brüste, versicherte ich Sheryl, bewegten sich nie, und sie trug superknappe Shorts, die das straffe obere Ende ihrer langen karamellfarbenen Oberschenkel zeigten. »Wenn ihre Beine die Vereinigten Staaten wären«, sagte ich zu Sheryl, »könntest du bis nach Michigan sehen.«
    »Battle Creek!«, sagte Sheryl, und ich lachte, obwohl ich nicht sicher war, was sie meinte. Ich glaube, sie wusste es selbst nicht.
    Insgesamt wirkte Sheryl eher gelangweilt von Lana. Ohne ihr begegnet zu sein, meinte sie, könne sie unmöglich wissen, ob das Mädchen mein Gehechel rechtfertige. Zum Thema Whiskey allerdings hatte Sheryl jede Menge zu sagen. Sie trank gern und es machte ihr Spaß, mir zu zeigen, wie es ging. Jeden Abend kehrten wir nach der Arbeit in eine miese Bar in den Tiefen der Penn Station ein, in der Rauch und Dunkelheit jeden wie Charles Bronson aussehen ließen, weshalb mich die Barmänner nie nach meinem Alter fragten. Sheryl spendierte mir ein paar Krüge kaltes Bier, und danach kauften wir uns große Plastikbecher mit doppelten Gin Tonics für die Heimfahrt. Wenn wir dann auf die Plandome Road traten, berührten unsere Füße nicht mehr ganz den Boden.
    An einem dampfigen Freitagabend Mitte August schlug Sheryl noch einen letzten Drink im Publicans vor, bevor wir nach Hause gingen. Ich warnte sie, dass Onkel Charlie bestimmt nicht begeistert wäre.
    »Du gehst doch ständig ins Publicans«, sagte sie.
    »Tagsüber. Nachts ist es dort anders.«
    »Sagt wer?«
    »Versteht sich doch von selbst. Abends ist es immer anders.«
    »Onkel Charlie ist es egal. Er will, dass du ein Mann bist. Also sei ein Mann.«
    Widerstrebend ging ich hinter ihr durch die Tür.
    Meine Vermutung war zutreffender als ich geahnt hatte. Im Dunkeln war das Publicans ein völlig anderer Laden. Spritziger. Alle lachten, redeten gleichzeitig, und alles schien sich um Sex zu drehen. Die Leute sagten Dinge, die sie am nächsten Tag bereuen würden, das merkte ich gleich.
    In der Bar tummelte sich eine solche Fülle von Charakteren in einer solchen Vielfalt von Kostümen, dass ich mir vorkam, als wären Sheryl und ich hinter die Bühne einer großen Oper geraten. Da waren Priester und Softballspieler und leitende Angestellte. Männer in Smokings und Frauen in Abendkleidern unterwegs zu Wohltätigkeitsveranstaltungen. Golfspieler, die gerade vom Platz, Matrosen, die gerade vom Schiff, Maurer, die gerade von der Baustelle kamen. Die Bar war so voll wie der Feierabendzug, mit dem Sheryl und ich eben aus Manhattan gekommen waren, und im Grunde hätte sie eine Verlängerung des Zuges sein können, ein weiterer, an die Lok gekoppelter Wagen, denn der Raum war lang, schmal, bevölkert mit vielen der gleichen Gesichter, und er schien von einer Seite zur andern zu schwanken. Wir schoben uns tiefer in die Menge. Sheryl schnorrte eine Zigarette von einem jungen Mann, berührte seinen Arm, legte ihm eine Hand auf die Schulter, warf ihre Haare zurück. Ich erinnerte mich, dass sie in ihrer Handtasche eine frische Packung Virginia Slims hatte, und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ihr ganzes Gerede, von wegen sie wolle einen Mann aus mir machen, war nur ein Vorwand für ihren Hauptplan. Sie suchte einen Mann. Und aus mir wollte sie nur einen machen, damit ich ihr im Publicans, wo sich alle infrage kommenden Kandidaten aufhielten, Geleitschutz gab. Allein konnte sie natürlich nicht gehen. Sie wollte schließlich keinen verzweifelten Eindruck machen.
    Ich fühlte mich benutzt und ließ sie stehen, bohrte mich durch die Menge, schlängelte mich in Richtung Restaurant. Nach drei Metern jedoch kam ich zum Stehen. Da es weder vorwärts noch rückwärts ging, lehnte ich mich an einen Pfeiler. Neben mir stand eine Frau, ungefähr Mitte zwanzig. Sie hatte ein hübsches Gesicht und trug ein kariertes Kleid mit seitlichen Abnähern, die ihre Figur betonten. »Was dagegen, wenn ich auch hier lehne?«, fragte ich.
    »Wir leben in einem freien Land.«
    »Hey, das sagt mein Großvater auch immer. Warst du

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