Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
Vom Netzwerk:
Endlich ließ mich jemand rein.
    Hinterher lagen Lana und ich Schulter an Schulter auf dem Rücken. »Dein erstes Mal?«, fragte sie.
    Wir mussten beide lachen.
    »Tut mir leid«, sagte ich.
    »Muss es nicht. Ich finde es aufregend, wenn es beim anderen das erste Mal ist.«
    Ich erzählte ihr von meiner Jagd nach Kondomen. »Ich hatte noch nie einen, der sich so – ins Zeug gelegt hat«, sagte sie.
    Sie schlief ein, ihr Kopf lag auf meiner Brust, und ich zählte Sterne. Als ich den Kopf zur Seite drehte, sah ich auf der Erde neben mir, schimmernd im Mondlicht wie eine Muschel, das unbenutzte, aufgerollte Kondom. War ich in einem leichtsinnigen Augenblick gleichzeitig Mann und Vater geworden? Egal. Jedenfalls war ich kein Junge mehr.
    Wahrscheinlich war ich weder Junge noch Mann, sondern etwas dazwischen. In der Schwebe. Selbst Sheryl hätte mir das zugestehen müssen. Ich überlegte, ob die Kindheit zu verlieren so ähnlich war wie Gedächtnisschwund – man vergaß sich selbst und sein altes Leben, vergaß alles Altbekannte, von dem man dachte, man würde es nie vergessen, und fing von vorn an. Ich hoffte es. Ich wünschte es mir auf den hellsten Stern, den ich sah. Und ich wünschte mir, es gäbe jemanden, den ich fragen könnte.
     
     
     
19 | MEIN KÜNFTIGES ICH
     
    Eine Woche später kam meine Mutter mit einem großen Gips um den Arm aus dem Krankenhaus nach Hause. Morgens nach dem Aufwachen zog sie von ihrem Bett auf die Couch um, denn wegen der Schmerzmittel schlief sie tagsüber ständig wieder ein. Die gute Nachricht war, dass die Ärzte keinen Hirnschaden festgestellt hatten. Ihr Gedächtnis funktionierte wieder. Aber sie redete nicht viel, und wenn, dann mit einem schwachen Krächzen, das wie aus weiter Ferne klang, ohne jegliches Timbre. Ihre Stimme, fand ich, war so ausdruckslos geworden wie ihre Miene. Nach der Schule und meiner Schicht im Buchladen setzte ich mich auf den Stuhl gegenüber der Couch, beobachtete meine Mutter im Schlaf oder füllte meine Bewerbung für Yale aus.
    Die erste Seite war ein Minenfeld, gespickt mit explosiven Fragen wie Name des Vaters. Ich überlegte, ob ich »Johnny Michaels« angeben sollte, gab jedoch »John Joseph Moehringer« an. Nächste Frage: Adresse des Vaters. Ich zog mehrere Möglichkeiten in Betracht. »Ungewiss.«
    »Unbekannt.«
    »Vermisst.« Ich gab »Entfällt« an und starrte hoffnungslos auf das Wort.
    Es war verrückt von Bill und Bud -vielleicht auch herzlos – mich zu einer Bewerbung für Yale zu überreden. Die landesweit beste Bildungsstätte würde bestimmt nicht zulassen, dass ihre Studentenschaft von meinesgleichen verseucht wurde, von einem billigen Loser, einem Zigeuner, der nicht einmal wusste, wo sein Vater wohnte. Bewerbungen wie die meine warf die Zulassungskommission zweifellos in einen besonderen Abfallkorb mit der Aufschrift: WEISSER ABSCHAUM.
    Yale interessiert sich nicht dafür, wo dein Vater wohnt, sagten Bill und Bud, als ich sie daraufhin ansprach.
    Ich schnaubte wütend.
    »Aber wenn dir das so zusetzt«, sagte Bill, »dann such ihn doch.«
    Als wäre das so einfach. Aber dann dachte ich: Vielleicht ist es ja einfach.
    Inzwischen war viel Zeit vergangen. Ich war fast siebzehn, ein anderer Mensch – genau wie vermutlich mein Vater. Vielleicht war er ja neugierig auf mich. Vielleicht hatte er bei Opa angerufen und mich gesucht, war dann aber abgehängt worden. Und wenn mein Vater nun gern meine Stimme hören würde? Möglich war es, zumal ich nichts mehr von ihm wollte. Ich schämte mich zwar, es zuzugeben, aber ich hatte nicht mehr vor, meinen Vater zu verklagen. Dieser Plan hatte sich verflüchtigt, und an seine Stelle war der brennende Wunsch getreten, ihn kennen zu lernen und herauszufinden, wer er war, damit ich endlich klären konnte, wer ich sein könnte.
    Ihn ausfindig zu machen stellte ich mir nicht schwierig vor. Immerhin besuchte ich einen Journalismuskurs in der Schule und schrieb für die Schülerzeitung – meine erste Geschichte war ein leicht durchschaubares, kriecherisches Porträt von einem Discjockey aus der Gegend – und ich lernte mit Entzücken, dass eine der grundlegendsten Aufgaben von Reportern das Ausfindigmachen von Leuten war. Die Suche nach meinem Vater wäre mein erster Versuch im investigativen Journalismus. Und sollte ich herausfinden, dass er tot war, sei’s drum. Die Gewissheit würde mir Frieden geben, und ich könnte unter Adresse des Vaters »verstorben« eintragen, eine klare Verbesserung

Weitere Kostenlose Bücher