Tender Bar
gegenüber »entfällt«.
Meiner Mutter durfte ich nichts von der Suche erzählen. Sie würde sich verraten fühlen, wenn ich den Mann treffen wollte, der sie hatte umbringen wollen, besonders nachdem ein betrunkener Fahrer sie beinahe umgebracht hatte. Also führte ich meine Suche heimlich durch, nach der Schule, und benutzte das Telefon im Journalismusbüro, um Radiosender und Clubs im ganzen Land anzurufen. Keiner wusste, wo mein Vater lebte oder ob er überhaupt lebte. Ich ging in die Bibliothek und suchte in Telefonbüchern von unzähligen Städten, aber immer gab es zu viele Johnny Michaels’ und keine John Moehringers. Nach einem Monat hatte ich nicht einen einzigen Hinweis gefunden.
Eines Tages, als meine Mutter auf dem Markt war, rief ich schnell einen früheren Kollegen meines Vaters bei WNBC in New York an. Seit Wochen versuchte ich, den Mann ans Telefon zu bekommen, und es war das erste Mal, dass seine Sekretärin sagte, er sei zu sprechen. Während er nachsah, ob er eine Nummer von meinem Vater hatte, kam meine Mutter zurück. Sie hatte die Einkaufsliste vergessen. »Mit wem redest du?«, fragte sie. Der Mann kam wieder zurück und sagte, mein Vater habe die ausdrückliche Anweisung hinterlassen, seine Adresse nicht weiterzugeben. Ich wollte etwas einwenden, aber er legte auf. Meine Mutter setzte sich zu mir und wir starrten beide das Telefon an. Sie fragte mich, ob ich ihre Hilfe wolle. »Nein«, sagte ich. Sie hielt den Arm, den sie sich bei dem Unfall gebrochen hatte. Der Gips war erst kürzlich abgenommen worden, der Arm war dünner geworden. Sie hatte noch oft Schmerzen darin, und jetzt verursachte ich ihr noch mehr Schmerzen. Während ihrer Genesung hatte sie außerdem nicht arbeiten können, und unsere Rechnungen hatten sich wieder angehäuft. Die Geldsorgen wuchsen ihr mehr noch als sonst über den Kopf, und ich bereitete ihr zusätzlichen Kummer.
»Tut mir leid«, sagte ich.
»Du musst dich nicht entschuldigen. Ein Junge braucht einen Vater.« Sie lächelte traurig. »Jeder braucht einen Vater.«
Meine Mutter sah ihre Unterlagen durch und zog ein altes Adressbuch vor. Sie glaubte, möglicherweise eine Nummer von der Schwester meines Vaters in Florida zu haben. Sie setzte ihre Brille auf und streckte ihren dünner gewordenen Arm nach dem Hörer aus. Da ich nicht mithören wollte, ging ich in mein Zimmer und arbeitete an meinem Aufsatz für Yale.
Meine Mutter erreichte die Schwester meines Vaters, obwohl es vielleicht besser gewesen wäre, wenn nicht. Die Schwester sagte, mein Vater wolle nicht gefunden werden. Damit war die Sache gelaufen. »Wie auch immer«, sagte meine Mutter, die am Herd stand und Essen kochte, »ich habe ihr eine Nachricht für ihn hinterlassen. Wir werden sehen.«
Am nächsten Tag klingelte frühmorgens das Telefon. Ich erkannte die Stimme sofort.
»Dad?«, sagte ich.
»Wie geht’s dir?«, fragte er. Er klang traurig.
»Bestens«, sagte ich.
»Bestens?«
»Ja.«
»Aber wann … wie …?«
Meine Mutter schnappte sich das Telefon, wölbte die Hand über den Hörer, drehte mir den Rücken zu und flüsterte mit meinem Vater. Später beichtete sie mir, welche Nachricht sie seiner Schwester hinterlassen hatte: JR ist sehr krank und er würde gern seinen Vater treffen – bevor es zu spät ist. Eine ihrer besten Lügen.
Als mir meine Mutter den Hörer zurückgab, klang mein Vater vergnügt. Er fragte, was es Neues gäbe und schien interessiert zu hören, dass ich mich für Yale bewarb. Ich fühlte mich geschmeichelt, weil ich ein Trottel war. Er interessierte sich gar nicht dafür, er war misstrauisch. Er wusste, dass Yale teuer war und dachte, ich rief ihn an, um ihn um finanzielle Unterstützung anzuhauen. Kaum erwähnte ich die Anträge auf Studienbeihilfe, die auf unserem Küchentisch verstreut lagen, änderte sich sein Tonfall, und er sagte sogar, er überlege, ob er mich in Arizona besuchen komme, allerdings nur, wenn meine Mutter versprechen würde, ihn nicht hinter Gitter zu bringen. Sie musste es mehrmals versprechen, und ich gab es jedes Mal weiter, bevor er ihr glaubte. Gut, gut, sagte er schließlich. Er lebte in Los Angeles und arbeitete bei einem Rocksender – am Wochenende wollte er nach Phoenix fliegen.
Ich fragte meine Mutter, wie ich meinen Vater am Flughafen erkennen könnte. Meine Erinnerung an ihn war verblasst.
»Es ist lange her«, sagte sie. »Er sah ein bisschen aus wie – ich weiß nicht.«
»Wie wer?«
»Du.«
»Oh.«
Sie trank
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