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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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gerade eine Tasse Kaffee. Sie schaute in die Tasse und überlegte. »Er hat gern gegessen«, sagte sie. »Früher war er Koch.«
    »Tatsächlich?«
    »Er ist bestimmt schwerer geworden. Er hat auch gern getrunken, was sich ebenfalls auf das Äußere eines Menschen auswirkt. Und ihm gingen allmählich die Haare aus. Ich nehme an, er hat noch mehr verloren.«
    »Willst du damit sagen, ich soll nach einer dicken, versoffenen, kahlköpfigen Version von mir Ausschau halten?«
    Sie hielt sich die Hand vor den Mund und lachte. »Oh JR«, sagte sie. »Du bist der Einzige, der mich zum Lachen bringen kann.« Dann wurde sie augenblicklich wieder ernst. »Ja«, sagte sie. »Ja, ich glaube, das dürfte hinkommen.«
    Ich stand an der Sperre und starrte jedem Mann ins Gesicht, als wäre es eine Kristallkugel. Bin ich das in dreißig Jahren? Könnte ich das sein? Ist das – mein künftiges Ich? Jeder Mann starrte zurück, nur zeigte keiner ein Zeichen des Wiedererkennens. Als die Flugbegleiterinnen die Maschine verließen, stampfte ich wütend auf. Wieder hatte er mich versetzt. Ich dachte, mein Vater hätte sich geändert, aber ein Mensch ändert sich nicht.
    Ein letzter Passagier kam aus dem Flugzeug. Ein kämpferischer Hydrant von einem Mann, fast acht Zentimeter kleiner als ich, aber mit meiner Nase und meinem Kinn. Er sah aus wie ich, nur dreißig Jahre älter und gut dreißig Kilo schwerer, und mit ein paar mehr Muskelschichten. Unsere Augen trafen sich. Ich spürte seinen Blick auf mir, als hätte er einen Baseball durch das Terminal geschleudert und mich mitten auf die Stirn getroffen. Er kam auf mich zu, und ich trat einen Schritt zurück, weil ich dachte, er könnte mich schlagen, aber er nahm mich vorsichtig in den Arm, als wäre ich zerbrechlich, was ich ja war.
    Die Präsenz meines Vaters, sein beeindruckender Umfang, der Duft nach Haarwasser und Zigaretten und Whiskey, den er im Flugzeug getrunken hatte, machten mich schwach. Aber mehr noch als seine Nähe und sein Geruch verunsicherte mich die Tatsache, dass es ihn wirklich gab. Ich umarmte die Stimme. Ich hatte ganz vergessen, dass mein Vater aus Fleisch und Blut war. Im Laufe der Zeit hatte ich ihn mit meinen vielen fantasierten Vätern zusammengetan, und als ich jetzt mühsam um seine Schultern griff, kam ich mir vor, als würde ich Balu oder Baghira umarmen.
    In einem Cafe in der Nähe des Flughafens saßen wir uns an einem wackligen Tisch gegenüber, starrten einander an und sahen die Ähnlichkeit. Er erzählte mir von seinem Leben, oder dem Leben, von dem er wollte, dass ich dachte, er hätte es geführt, voller Abenteuer und Gefahr und Glanz. Er ließ seine Vergangenheit romantisch klingen, um uns beide von seiner Gegenwart abzulenken, die ziemlich düster aussah. Er hatte sein Talent vergeudet, sein Geld durchgebracht und stand am Beginn eines langen Abstiegs. Er erzählte eine Geschichte nach der andern, eine Scheherazade mit dunkler Sonnenbrille und Lederjacke, und ich sagte nichts. Ich hörte genau zu und glaubte jedes Wort, jede Lüge, auch wenn ich sie als solche enttarnte, aber ich war ebenso überzeugt, dass er es bemerkte und mir nur so viele Geschichten erzählte, weil er meine ungeteilte Aufmerksamkeit und Leichtgläubigkeit zu schätzen wusste. Später wurde mir klar, dass er nichts bemerkt hatte. Mein Vater war auch nervös, nervöser als ich, und Geschichten erzählen beruhigte seine Nerven. Endlich, dachte ich, saß er vor mir, aber wie immer versteckte er sich hinter seiner Stimme.
    Ich erinnere mich kaum noch an Einzelheiten seiner mündlichen Autobiografie. Ich weiß noch, dass er von bekannten Schönheiten erzählte, mit denen er im Bett war, aber ich weiß nicht mehr, mit wem; ich weiß, dass er von Berühmtheiten erzählte, die er gekannt hatte, aber ich kann mich nicht mehr an ihre Namen entsinnen. Am deutlichsten ist mir noch in Erinnerung, was wir beide nicht aussprachen. Mein Vater lieferte mir keine Erklärung oder Entschuldigung für sein Verschwinden, und ich verlangte keine von ihm. Vielleicht hatten wir das Gefühl, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war. Vielleicht wussten wir nicht, wo wir anfangen sollten. Höchstwahrscheinlich fehlte uns beiden der Mut. Woran immer es lag, wir verfielen in ein konspiratives Schweigen und taten beide so, als läge die Tatsache, dass er mich verlassen und meine Mutter misshandelt hatte, nicht zwischen uns auf dem Tisch wie eine tote Ratte.
    Mir fiel es leichter, uns etwas vorzumachen. Mein

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