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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Vater – ein erwachsener Mann und Vater – begriff sehr viel besser als ich, was er getan hatte. Ich sah es in seinem Gesicht und hörte es aus seiner Stimme, ohne zu erkennen, was es war. Erst Jahre später, als ich mehr über Schuld und Selbsthass wusste und wie sie das Aussehen und die Stimme eines Mannes beeinflussen, konnte ich es benennen.
    Von den vielen Geschichten, die mein Vater an jenem Abend erzählte, blieb eine schließlich in meinem Gedächtnis hängen. Als ich fragte, woher er seinen Radio-Namen hatte und warum er überhaupt einen benutzte, sagte er, Moehringer sei gar nicht unser richtiger Name. Sein verstorbener Vater war ein sizilianischer Einwanderer namens Hugh Attanasio, der keine Arbeit fand, weil sämtliche Fabriken an der Lower East Side von »Italiener hassenden Krauts« geleitet wurden. Um die Krauts zu täuschen, nahm Hugh den Namen seines kürzlich verstorbenen deutschen Nachbarn Franz Moehringer an. Mein Vater mochte den Namen Moehringer nie und seinen alten Herrn mochte er auch nicht, und so wurde er, als er ins Showbusiness einstieg, Johnny Michaels.
    »Moment«, sagte ich und zeigte auf mich. »Ich bin nach dem toten deutschen Nachbarn deines Vaters benannt?«
    Er lachte und sagte: »Na ja, wenn du es so ausdrückst, klingt es wirklich komisch.«
    Am nächsten Morgen trafen wir uns im Hotel meines Vaters zum Kaffee. Seine Haut war grau, die Augen rötlich. Offenbar war er in die Hotelbar eingekehrt, nachdem ich weg war. Sein Kater machte es ihm unmöglich, den Monolog vom Vorabend fortzusetzen, und so konnte ich nicht mehr nur dasitzen und zuhören. Jemand musste etwas sagen. Stotternd erzählte ich von Bill und Bud, Onkel Charlie, dem Publicans, Lana, Sheryl, meinen Lebenszielen.
    »Immer noch die Anwaltsschiene?«, sagte mein Vater und zündete sich eine Zigarette an der vorherigen an.
    »Warum nicht?«
    Er runzelte die Stirn.
    »Wie schätzt du deine Chancen ein, in Yale anzukommen?«, fragte er.
    »Unter null«, entgegnete ich.
    »Ich glaube, sie nehmen dich«, sagte er.
    »Wirklich?«
    »Aus dieser Ödnis kriegen sie bestimmt nicht viele Bewerbungen«, sagte er. »Du lieferst ihnen die geographische Vielfalt.«
    Sein Rückflug nach Los Angeles ging mittags. Auf der Fahrt zum Flughafen wollte ich ihm noch etwas Tiefschürfendes sagen. Bevor wir uns verabschiedeten, fand ich, sollten wir das Thema anschneiden, das wir vermieden hatten. Aber wie? Mein Vater drehte die Anlage im Auto lauter und sang bei meiner Sinatra-Kassette mit, während ich in Gedanken verschiedene Ansprachen schwang. Ich dachte daran, ihn zur Rede zu stellen. Warum hast du meine Mutter und mich ohne einen Penny sitzen lassen? Aber vielleicht sollte ich einen versöhnlichen Ton anschlagen und vorschlagen, von vorne anzufangen. Hör zu, die Vergangenheit ist passé, ich hoffe, wir können das alles hinter uns lassen. Egal, was ich sagte, es musste klug, aber auch ernst sein, und in meinem Bemühen, die richtigen Worte zu finden, den passenden Ton anzuschlagen, achtete ich nicht mehr auf die Straße. Ich fuhr über gelbe Ampeln, hielt nicht die Spur und konnte nur um ein Haar einem Transporter ausweichen, der rückwärts aus einer Einfahrt fuhr. Am Flughafen hielt ich mit quietschenden Bremsen am Randstein, stellte den Hornet auf Parken und drehte mich zu meinem Vater um. Ich sah ihm fest in die Augen und sagte – nichts. Er griff auf dem Rücksitz nach seinem Kleidersack, umarmte mich, stieg aus und knallte die Tür zu. Von mir selbst angewidert und beschämt über meine Feigheit umklammerte ich das Steuer und starrte geradeaus. Ich dachte daran, wie enttäuscht Bud wäre, wenn ich ihm erzählte, dass ich mich von meiner Angst hatte unterkriegen lassen.
    Am selben Abend wusste ich genau, was ich meinem Vater gern gesagt hätte, und schrieb es auf. Ich wollte ihm sagen, dass ich einsah, wie wenig er sich zur Vaterschaft eignete und er von vornherein nie Vater hatte sein wollen, weshalb es sinnlos war, wenn ich seine Abwesenheit in meiner Kindheit bedauerte. Was ich bedauerte, war die mir entgangene Erfahrung. Ich glaube, ich wäre gern der Sohn eines Vaters gewesen.
    Jemand klopfte an die Scheibe. Mein Vater spähte herein, bedeutete mir, das Fenster zu öffnen. Offenbar fand auch er, dass noch etwas Tiefschürfendes gesagt werden sollte. Ich beugte mich zur Seite und kurbelte das Fenster herunter.
    »JR«, sagte er, als die Scheibe sich senkte. »Eines muss ich einfach noch loswerden.«
    »Ja?«
    »Du fährst

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