Tender Bar
zum Kanal, betrachtete das Wasser und lauschte ein paar Betrunkenen, die »Auld Lang Syne« sangen.
Danach behielt ich täglich die Post im Auge, obwohl ich wusste, der Zulassungsausschuss fällte seine Entscheidung erst Monate später.
Der einzige Brief, der ankam, war von Sheryl. Ich war ganz gerührt, weil ich dachte, sie hätte die Seite mit dem Logo von Yale geschmückt, jenem majestätisch aussehenden Y, doch bei näherem Hinsehen merkte ich, dass Sheryl am Ende eines jeden Satzes Martinigläser gezeichnet hatte, ein Piktogramm dafür, wie sie ihre Zeit verbracht hatte. Sie war mit Soundso zusammen, der gern (Martiniglas), dann war ihr Wie-heißt-er-noch-gleich über den Weg gelaufen und es wurde eine sehr lange Nacht (Martinigläser); im Übrigen ließ mich die Clique im Publicans (Martinigläser) herzlich grüßen. Zum Schluss verabschiedete sie sich mit: »Trink einen Cocktail. Mach ich auch gerade. Gruß und Kuss, Sheryl.«
Es wurde Frühjahr. Jeden warmen Abend verbrachte ich am Kanal und fragte mich, ob der Zulassungsausschuss an diesem Tag über mich entschieden hatte oder vielleicht am nächsten Morgen oder Nachmittag. Ich betrachtete die Sterne, die sich auf dem Wasser spiegelten, und wünschte mir auf jeden dasselbe. Bitte. Bitte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren würde, wenn sie mich ablehnten. Zur Absicherung hatte ich mich an der Arizona State beworben, aber ich hatte nicht die geringste Lust, dorthin zu gehen. Wenn Yale mich abwies, dachte ich, könnte ich gleich nach Alaska verduften. Manchmal spielte ich die Fantasie in Gedanken durch und stellte mir den Kanal als wilden Fluss im Yukon vor, wo ich in einer Holzhütte lebte, angelte und las, mich von Grizzlyfleisch ernährte und kaum noch an Yale dachte, außer an verschneiten Abenden, wenn ich am Feuer saß, mir die Läuse aus dem Bart kämmte und Eli streichelte – meinen Hund.
Immer wenn ich vom Kanal nach Hause kam, war meine Mutter noch wach und arbeitete am Küchentisch. Wir unterhielten uns eine Weile über alles Mögliche, nur nicht über Yale, und dann ging ich ins Bett und hörte Sinatra, bis ich einschlief.
Am 15. April kam ein Brief an. Meine Mutter legte ihn mitten auf den Küchentisch. Vermutlich hätten wir ihn den ganzen Tag angestarrt, wenn sie mich nicht aufgefordert hätte, ihn zu öffnen. Ich nahm den Brieföffner, den sie mir bei unserem Yale-Besuch gekauft hatte, und schlitzte den Umschlag auf Ich nahm den Bogen Florpostpapier heraus, faltete ihn auseinander, las still.
»Lieber Mr Moehringer: Es ist mir eine große Freude, Ihnen mitzuteilen, dass der Zulassungsausschuss von Yale beschlossen hat, Ihnen einen Platz für den Studienjahrgang 1986 anzubieten.«
»Was ist denn?«, fragte meine Mutter.
Schweigend las ich weiter. »Ebenso gern teile ich Ihnen mit, dass Ihr Antrag auf Studienbeihilfe bewilligt wurde.«
»Jetzt komm schon«, sagte meine Mutter.
Ich reichte ihr den Brief. 0 mein Gott, sagte sie beim Lesen, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie drückte den Brief an ihr Herz. Ich packte sie und tanzte mit ihr durchs Wohnzimmer in die Küche und wieder zurück, und dann saßen wir nebeneinander am Tisch und lasen den Brief immer wieder. Ich brüllte den Brief, sie sang den Brief, schließlich verstummten wir. Wir konnten nichts mehr sagen. Wir wagten es nicht, und wir mussten es auch nicht. Wir glaubten beide an Wörter, aber für jenen Tag, für dieses Gefühl gab es nur drei Worte: Wir sind reingekommen.
Ich rief bei Opa an und sagte es ihnen. Dann kam der entscheidende Anruf im Publicans. Ich hatte Onkel Charlie noch nie in der Bar angerufen, er rechnete also mit dem Schlimmsten. »Wer ist gestorben?«, fragte er.
»Ich dachte nur, es interessiert dich vielleicht, dass dein Neffe in Yale angenommen worden ist.«
Pause. Ich hörte fünfzig Stimmen im Hintergrund, ein Baseballspiel im Fernsehen, Gläser klirrten. »Unglaublich«, sagte er. »Hey allesamt! Mein Neffe ist in Yale angenommen!« Er hielt den Hörer hoch, und ich hörte Jubelrufe, gefolgt von einem wilden, feuchtfröhlichen »Hipp-hipp-Hurra« -Chor.
Im Buchladen ging ich ruhig in den Lagerraum, so als wollte ich meinen Gehaltsscheck abholen. Bill und Bud lasen gerade. Ich weiß noch – und werde es nie vergessen – dass Bud auf seinem Hocker saß und Mahlers 1. Symphonie hörte. »Irgendwas Neues?«, fragte er.
»Von wem?«, sagte ich.
»Du weißt schon«, erwiderte Bill.
»Was? Ach, du meinst Yale. Ich hab’s
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