Tender Bar
eine zehnseitige Arbeit schreiben. Ich marschierte sofort in die Sterling Library und suchte mir einen Lederstuhl im Leseraum. Neben mir ging ein Fenster auf einen umfriedeten Garten, in dem ein Springbrunnen plätscherte und Vögel zwitscherten. Nach wenigen Minuten versank ich auf meinem Lederstuhl, fiel zurück in die Tiefen der Zeit und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem windgebeutelten Strand von Ilium. Ich las stundenlang ohne eine Pause und entdeckte zu meiner großen Freude, dass es in dem Epos nicht nur um die Sehnsucht nach einem Zuhause, sondern auch um Männer und die dünne Rüstung der Männlichkeit geht. Mir stockte der Atem, als ich zu der Szene zwischen Hektor, dem großen trojanischen Krieger, und seinem kleinen Sohn kam. Hektor, gerüstet für die Schlacht, verabschiedet sich von dem Jungen. Geh nicht, fleht Hektors Frau – aber er muss gehen. Es ist nicht sein Wille, sondern sein Schicksal. Das Schlachtfeld ruft. Er hält den Jungen, »schön wie ein leuchtender Stern«, küsst ihn zum Abschied, dann spricht er ein Gebet: »Mögen sie eines Tages von ihm sagen: er ist bei weitem besser als sein Vater.«
Als ich um Mitternacht in mein Zimmer zurückkehrte, wimmelte es in meinem Kopf von Ideen für meine Arbeit. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schaltete die Lampe an. Während mein Zimmergenosse in der oberen Bettetage schnarchte, schlug ich mein neues Notizbuch auf und machte eine Liste mit sehr außergewöhnlichen Wörtern.
Professor Luzifer gab uns die Arbeiten zurück, indem er sie den Tisch entlang warf. Er erklärte uns, dass er genauso viel Mühe in ihre Bewertung gesteckt habe wie wir ins Schreiben. Unsere primitiven Analysen des Epos, sagte er, hätten ihn »entsetzt«. Wir seien dieses Kurses nicht würdig. Wir seien Homers nicht würdig. Beim Sprechen sah er mich mehrmals unvermittelt an. Alle blätterten den Papierstapel durch, und als ich meine Arbeit fand, wurde mir ganz flau im Magen. Ein rotes »D+« war auf die erste Seite gekritzelt. Der Junge neben mir sah genauso verzweifelt aus. Ich spähte über seine Schulter. Er hatte ein B-plus bekommen.
Nach dem Seminar suchte ich unter meiner ausladenden Ulme Zuflucht und las Professor Luzifers Randnotizen, die mit einem roten Füller geschrieben waren, der auslief, sodass die Seiten wie mit Blut bespritzt aussahen. Einige Kommentare ließen mich zusammenzucken, andere gaben mir zu denken. Das Wort »irgendwie« hatte er mehrfach umringelt und an den Rand geschrieben: »intellektuelle Faulheit«. Ich hatte nicht gewusst, dass »irgendwie« eine Sünde war. Warum hatten Bill und Bud mir das nie gesagt? Gab es ein besseres Wort für »irgendwie«?
Vor meiner nächsten Arbeit ging ich in den Uni-Buchladen und kaufte mir ein größeres Wörterbuch, aus dem ich eine Liste mit schöneren Wörtern sammelte, alle fünfsilbig. Ich schwor mir, Professor Luzifer so zu überraschen, dass ihm sein Vandyke-Bart zu Berge stand. Auf meine zweite Arbeit bekam ich ein D. Ich zog mich erneut unter meine Ulme zurück.
So hart ich in diesem Herbst auch lernte und so sehr ich mich bemühte, das Ergebnis war immer ein C oder ein D. Für meine Arbeit über John Keats’ »Ode auf eine griechische Urne« las ich das Gedicht eine Woche lang vorwärts und rückwärts, lernte es auswendig, sagte es beim Zähneputzen auf. Professor Luzifer würde den Unterschied bestimmt merken. In seinen Randnotizen schrieb er, es sei meine schlechteste Arbeit in diesem Semester. Er gab mir wortreich zu verstehen, dass ich Keats’ Urne wie mein persönliches Urinal behandelt hatte. Und meiner Wendung »Wer die Ode nicht ehrt, ist der Urne nicht wert« konnte er nichts abgewinnen.
Gegen Semesterende hatte ich einen Fußweg zwischen den Seminarräumen und meiner Ulme gegraben, und ich war zu einer düsteren Erkenntnis gelangt: In Yale anzukommen, war großes Glück gewesen, aber in Yale durchzukommen und ein Diplom zu erlangen, wäre ein Wunder. Ich war ein guter Student, der von einer schlechten staatlichen Schule kam, und das hieß, ich war nicht gut vorbereitet. Meine Studienkollegen dagegen schafften alles mit links. Nichts konnte sie überraschen, denn sie hatten sich ihr ganzes Leben auf Yale vorbereitet, auf renommierten Privatschulen, von denen ich vor meiner Ankunft in New Haven nie gehört hatte. Meine Einstimmung auf Yale hatte im Lagerraum eines Buchladens bei zwei verrückten Eremiten stattgefunden. An manchen Tagen hatte ich den Verdacht, meine
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