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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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wieder kein Glück. Ich zählte die ersten drei Namen auf, die mir einfielen – Hart, Schaffner und Marx. Wie der Zufall es wollte, arbeitete der Vater in der Bekleidungsbranche. Er kannte Hart Schaffner Marx, Hersteller von Herrenanzügen, kannte sie gut. Ich sah, wie er insgeheim den Schluss zog, dass ich ein Lügner und Trottel war, bevor er sich angewidert von mir abwandte.
    Zeit frische Luft zu schnappen.
    Ich eilte zu derselben ausladenden Ulme, unter die ich mich bei meinem ersten Yale-Besuch mit meiner Mutter zurückgezogen hatte. An die Ulme gelehnt sah ich zu, wie meine Studienkollegen ankamen, eine Flottille von Familien, die mit dem Wind im Rücken durch die College Street segelte, in Autos, die das Dreifache von dem kosteten, was meine Mutter in einem Jahr verdiente. Bis zu diesem Augenblick war mir nicht in den Sinn gekommen, dass es seltsam aussehen könnte, allein in Yale zu erscheinen, und ich hätte nie erwartet, dass sich meine Studienkollegen so eklatant von mir unterscheiden würden. Abgesehen von den sichtbaren Dingen wie Kleidung, Schuhe und Eltern, fiel mir an jenem ersten Tag ihr Selbstvertrauen auf. Wie die Augusthitze schien ihr Selbstvertrauen in flirrenden Wellen vom Unigelände aufzusteigen, und wie die Hitze zehrte es an meiner Kraft. Ich überlegte, ob man Selbstvertrauen erwerben konnte oder ob man damit zur Welt kam und es, wie einen Vater oder makellose Haut, einfach hatte.
    Ein selbstsicherer Junge stach aus dem ganzen Rest heraus. Er erinnerte mich an ein Foto, das Bud mir einmal von einer Marmorbüste aus der Antike gezeigt hatte. Wie Caesar, fand ich. Aus dem Blick seiner Augen strahlte das gleiche gebieterische Selbstvertrauen. Es waren die Augen seines Vaters oder Onkels, oder wer immer der Mann war, der ihm eine Stereoanlage in sein Zimmer schleppen half, und sie blendeten jeden, der vorbeiging. Es war der erste Tag im Schuljahr, doch dieser Junge gab schon jetzt zu erkennen, dass er hier seinen Abschluss machen würde. Ihm gehörte Yale. Er kannte fast jeden, und die er nicht kannte, hielt er an, um sie kennen zu lernen. Er hielt das Kinn leicht nach oben gereckt, als stünde sein Gegenüber auf einer Trittleiter, eine Pose, die seine königliche Haltung betonte, ebenso wie seine Adlernase und das vorstehende Kinn. Er lächelte, als hätte er ein Gewinnlos in der Tasche, und so war es vermutlich auch. Sein Erfolg war gesichert. Er sah aus wie einer, dem nie etwas Schlimmes zustößt.
    Wie konnte ich mit einem solchen Jungen die gleiche Schule besuchen? Wie konnten wir auf dem gleichen Planeten wandeln? Im Grunde war er gar kein Junge, sondern ein richtiger Mann. Wenn ich irgendwann neben ihm stehen sollte – eine ziemlich unwahrscheinliche Aussicht – käme ich mir wahrscheinlich vor wie ein kleiner Junge in Samthosen mit einem Riesenlutscher in der Hand. Er existiere auf einer anderen Realitätsebene, Welten von mir entfernt, obwohl er auch etwas quälend Vertrautes an sich hatte. Ich starrte ihn an, bis es mir einfiel. Er sah aus wie Jedd.
    Jedd. Ich hätte ihn gern angerufen und um seinen Rat gefragt. Jedd hätte gewusst, was zu tun war. Aber wir hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr. Ich dachte daran, meine Mutter anzurufen, aber das kam nicht infrage. Sie würde die Panik in meiner Stimme hören, und ich durfte sie nicht wissen lassen, dass mich schon am ersten Tag der Mut verließ.
    Später am Abend legte ich Sinatra auf dem Plattenspieler meines Zimmergenossen auf, streckte mich auf dem Fenstersitz unseres Aufenthaltsraumes aus und blätterte das vierhundert Seiten starke Vorlesungsverzeichnis durch. Deshalb bin ich in Yale, dachte ich und wurde wieder munterer. Das Studium wäre meine Rettung. Ich würde alles andere ausschalten und mich auf Anthropologie 370b: »Studium der amerikanischen Kultur« konzentrieren, oder auf Englisch 433b: »Das Handwerk des Schriftstellers, oder Psychologie 242a: »Menschliches Lernen und Gedächtnis.« Ich würde Chinesisch lernen! Oder Griechisch! Ich würde Dante im italienischen Original lesen! Und ich würde Fechten lernen!
    Dann entdeckte ich etwas, das sich Directed Studies nannte. Dahinter verbarg sich ein zweisemestriger Intensivkurs über die westliche Kultur, ein gründliches Eintauchen in den Kanon, offen für eine »ausgewählte« Anzahl von Erstsemestern. Ich fuhr mit dem Finger über die Liste der Schriftsteller und Denker. Aischylos, Sophokles, Herodot, Plato, Aristoteles, Thukydides, Virgil, Dante, Shakespeare,

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