Tender Bar
fragte, wie um alles auf der Welt das passieren konnte. Onkel Charlie – betrunken, gekleidet in einen Papierkittel und mit dunkler Brille – stöhnte: »Ich hab vor der Wand im Fenway gespielt«, ein Satz, der am nächsten Tag an der Theke die Runde machte und seither als Slogan diente, der immer dann zitiert wurde, wenn jemand unter Größenwahn litt. Oder irgendeinem anderen Wahn.
Onkel Charlie ignorierte mittlerweile mindestens ein Dutzend durstige Gäste, um mir bei der Entscheidung zu helfen, ob ich Gin-Tonic JR oder Scotch-Soda Moehringer war. »Ob ich vielleicht doch einen Sidecar nehmen sollte?«, fragte ich.
Er hielt die Hand über die Augen. »Falsch«, sagte er. »Mein Neffe ist kein verdammter David Niven.«
»Das will ich doch schwer hoffen«, sagte ein Mann und kletterte auf den Hocker neben mir. »Sonst hätte er nämlich einiges zu erklären.«
Onkel Charlie lachte leise und stellte dem Mann ein Budweiser hin. Er erklärte ihm, dass ich gerade achtzehn geworden sei und wir meinen ersten offiziellen Cocktail aussuchen wollten. Der Mann gab mir die Hand und gratulierte mir. »Chas«, sagte er, »ich will deinem neuerdings offiziell trinkenden Neffen einen Drink spendieren.«
»JR, du wirst von Cager gedeckt«, sagte Onkel Charlie.
Während Cager sich eine Zigarette anzündete, musterte ich ihn gründlich. Er hatte lockiges kupferrotes Haar, das aus seiner Schildkappe quoll wie eine zu groß gewordene Topfpflanze aus ihrem Topf. Er sah ein bisschen aus wie ein Selbstporträt von van Gogh – der gehetzte Blick, die hellrote Färbung – aber sein Lächeln war vergnügt, mit Lücken zwischen den Zähnen. Trotz seines lose sitzenden Jogginganzugs erkannte ich die Statur eines früheren Sportlers. Ein Linebacker, schätzte ich. Vielleicht auch ein kräftiger Offensivspieler. Er hatte wuchtige Arme.
Von rechts drängte sich ein Mann mit einer irischen Tweedmütze an die Theke und in die Unterhaltung. »Goose«, sagte er, »wo wir gerade bei britischen Schauspielern sind, ich finde, dein Neffe hat ein bisschen Ähnlichkeit mit-Anthony Newley.«
Lager lachte und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Anthony Newley, aber Tweedmütze köderte Onkel Charlie, der sofort anbiss, den Kopf in den Nacken warf und ein Lied anstimmte. Lager und Tweedmütze erklärten mir, dass Onkel Charlie, sobald jemand Anthony Newley erwähnte, automatisch einen oder zwei Refrains von »What Kind of Fool Am I?« schmetterte. Mein Onkel könne nicht anders, sagten sie. Irgendein verrückter Reflex.
»Wie wenn Pawlow auf Pavarotti trifft«, scherzte ich.
Sie starrten mich verständnislos an.
»Wer ist Anthony Newley?«, fragte ich.
Onkel Charlie hielt inne. Er hob Lagers Budweiser hoch und knallte es auf die Theke, was mich mehr erschreckte a!s sein Gesang. »Wer Anthony Newley ist?«, sagte er. »Nur einer der größten Troubadoure aller Zeiten.«
»Wie Sinatra?«
»Troubadour, kein Schmachtsänger. Heilige Mutter – Anthony New-ley! JR! ›What Kind of Fool Am I?‹ Aus der klassischen Broadwayshow Stop the World | Want to Get Off!«
Ich starrte ihn an.
»Was bringen die euch bloß am College bei?«
Ich starrte weiter vor mich hin, ohne zu wissen, was ich sagen sollte. Er warf die Arme nach vorn und fing an.
What kind of fool am I,
Who never fell in love?
What kind of man is this?
An empty shell,
A lonely cell
In which an empty heart must dwell?
Beifall tröpfelte am Tresen entlang.
»Irgendwas an dem Lied«, sagte Joey D zu seiner Maus, »wirft bei Chas den Motor an.«
»Der Song rührt mich zu Tränen«, sagte Onkel Charlie. »Was für ein Narr – ein wunderschönes Gefühl, findet ihr nicht? Wunderschön. Und Newley. Diese Stimme! Dieses Leben!«
Onkel Charlie arbeitete mittlerweile an meinem Gin Martini. Der Diskussion überdrüssig, hatte er eine Alleinentscheidung getroffen. Ich sei, sagte er zu mir, ein »Herbst-Typ«, genau wie er, und guter britischer Gin, eiskalt, schmecke nach Herbst. Demzufolge werde ich Gin trinken. »Jede Jahreszeit hat ihr Gift«, sagte er und erklärte, Wodka schmecke nach Sommer, Scotch nach Winter und Bourbon nach Frühling. Während er abmaß und mixte und rührte, kehrte er zurück und erzählte mir Newleys Lebensgeschichte. In armen Verhältnissen aufgewachsen. Kannte seinen Vater nicht. Wurde ein Broadway-Star. Heiratete Joan Collins. Litt an Depressionen. Suchte seinen Vater. Mir gefiel die Geschichte, aber
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