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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Mitstudenten und ich benutzten verschiedene Sprachen. Einmal gingen zwei Jungen über den Hof, und ich hörte, wie einer dem anderen erklärte: »Ist das nicht irre tiefgründig?« Der andere lachte wie verrückt. Später in der Woche sah ich die beiden wieder. »Einen Moment mal«, sagte der Tiefgründige. »Für mich sind teleologische Argumente nicht hieb- und stichfest!«
    Philosophie war das einzige Fach, in dem ich gut war, weil es keine richtigen Antworten gab. Doch selbst hier staunte ich über das Selbstvertrauen – oder die Arroganz – meiner Studienkollegen. Während einer Diskussion über Plato sah ich, dass mein rechter Sitznachbar Erwiderungen an Sokrates an den Rand seines Lehrbuchs gekritzelt hatte. »Nein!«
    »Wieder falsch, Sok!«
    »Dass ich nicht lache – unwahrscheinlich!« Mir wäre nie in den Sinn gekommen, Sokrates zu widersprechen, und wenn, hätte ich es für mich behalten.
    Kurz vor den Prüfungen, als ich unter meiner Ulme saß und die spinnwebartigen, in alle Richtungen sich ausbreitenden Wurzeln betrachtete, kam ich zu dem Schluss, dass genau das mir fehlte – Wurzeln. Um in Yale gut zu sein, brauchte man ein Fundament, ein Grundwissen, aus dem man schöpfen konnte wie die Ulme Wasser durch ihre Wurzeln zog. Ich hatte keine. Ehrlich gesagt war ich nicht einmal sicher, ob mein Baum eine Ulme war.
    Ein kleines Ziel erreichte ich allerdings doch, als sich das erste Semester dem Ende näherte. Ich wurde achtzehn. Im Dezember 1982 war achtzehn das Alter, ab dem man in New York laut Gesetz offiziell trinken durfte. Und das hieß, ich konnte endlich auch anderswo Zuflucht suchen, nicht nur unter meiner ausladenden Ulme.
     
     
     
22 | CAGER
     
    Onkel Charlie stand hinter der Theke, trocknete ein Highball-Glas ab und sah den Knicks zu. An der Art, wie er das Glas hielt, nämlich als wollte er es gleich irgendwem über den Kopf hauen, und der Art, wie er böse auf den Fernseher starrte, als wollte er ihn ebenfalls gleich irgendwem über den Kopf hauen, ließ sich unschwer schließen, dass er schwere Kohle auf das falsche Team gesetzt hatte.
    Es war Freitagabend, draußen dämmerte es gerade. Die Bar war noch nicht voll. Im Restaurant speisten Familien zu Abend, am Tresen standen ein paar frühe Trinker, alle erstaunlich gelassen, wie Farmer aus New England, die auf einem Feld an einer Steinmauer lehnen. Ich trat durchs Restaurant ein, blieb an der Schwelle zur Bar stehen, stellte einen Fuß auf den Backsteinsockel, der unten an der Theke entlang führte und musterte Onkel Charlies Hinterkopf. Er spürte meinen Blick und drehte sich langsam um.
    »Sieh mal einer an. Wen haben wir denn da«, sagte er.
    »Hallo«, sagte ich.
    »Auch hallo.«
    »Was machen die Knicks?«
    »Rauben mir Jahre meines Lebens. Was machst du – hier?«
    Wie Geschworene schwenkten die Männer an der Theke ihre Köpfe in meine Richtung. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich stellte meinen Koffer ab, Onkel Charlie das Highball-Glas. Er lüpfte seine Zigarette vom Aschenbecher, nahm einen langen Zug und blinzelte durch die Zirruswolken aus Rauch zu mir herüber. Noch nie hatte er Bogart so ähnlich gesehen, noch nie hatte mich das Publicans mehr an Ricks Café Americain erinnert, weshalb ich vielleicht, als ich meinen Führerschein auf die Theke legte, etwas von »Transit-Visa« murmelte. Onkel Charlie warf einen Blick darauf, ohne ihn in die Hand zu nehmen, und tat so, als zählte er die Jahre seit meiner Geburt. Dann stieß er einen langen rollenden Seufzer aus.
    »Heute ist also der große Tag«, sagte er. »D-Day. Oder sollte ich lieber sagen B-Day? Du bist gekommen, um dir deinen ersten offiziellen Drink abzuholen.« Die Männer am Tresen glucksten. »Mein Neffe«, sagte er zu ihnen. »Ist er nicht schön?« Die Frage wurde mit einem tiefen Murmeln männlicher Zustimmung beantwortet, das wie Pferdewiehern klang. »Gemäß den Gesetzen des obersten Staates von New York«, fuhr er lauter fort, »ist mein Neffe heute ein Mann.«
    »Dann ist das Gesetz am Arsch«, sagte eine Stimme in der Dunkelheit zu meiner Rechten.
    Ich drehte mich um und sah Joey D den Tresen entlangstapfen. Er bemühte sich um ein Stirnrunzeln auf seinem großen Muppet-Gesicht, doch dahinter sah ich ein Grinsen, wie eine Sonne, die gleich die Wolken durchbricht. Er schnappte sich meinen Führerschein und begutachtete ihn unter dem düsteren Licht. »Kann nicht sein«, sagte Joey D. »Chas – der Kleine? ist wirklich kein Kleiner

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