Tender Bar
Milton, Aquin, Goethe, Wordsworth, Augustinus, Macchiavelli, Hobbes, Locke, Rousseau, Tocqueville – und das nur im ersten Semester. Ich schaute zum Fenster hinaus und dachte nach. Unten im Hof sammelte sich eine Gruppe von Studenten. Wieder sah ich den ungemein selbstsicheren Jungen, Jedd den Zweiten, der sich im Kreis der anderen erging. Der Kaiser von Yale. Directed Studies war die einzige Möglichkeit, sich mit einem solchen Jungen zu messen, die einzige Möglichkeit, mit seinem Selbstvertrauen fertig zu werden und vielleicht mein eigenes ein wenig zu stärken.
Ich rief meine Mutter an und fragte sie nach ihrer Meinung. Sie befürchtete, ich könnte mir zu früh zu viel zumuten, aber sie hörte in meiner Stimme das Bedürfnis heraus, mich schnell zu beweisen, deshalb befürwortete sie meine Bewerbung. Und falls ich angenommen würde, sagte sie, solle ich mir nicht, wie wir es besprochen hatten, einen Teilzeitjob suchen, sondern jede freie Minute nutzen, um zu lernen, lernen, lernen, und wenn ich Geld brauchte, würde sie an die Entschädigung gehen, die sie nach dem Unfall erhalten hatte.
Mit einem neuen Yale-Notizbuch unterm Arm und zwei neuen Stiften in der Tasche rannte ich über die Elm Street, begleitet vom Glockenläuten im Harkness Tower. Die ersten Blätter färbten sich schon braun. Man hatte mich für den Intensivkurs angenommen, was ich als un-glaubliche Fhre empfand, auch wenn ich später feststellte, dass nahezu jeder Masochist zugelassen wurde, der bereit war, viermal so hart zu schuften wie die restlichen Erstsemester. Auf dem Weg zu meiner ersten Veranstaltung, ein Literaturseminar, dachte ich daran, wie oft Onkel Charlie mir gesagt hatte, ich solle die Uhr anhalten, auf der Stelle stehen bleiben und erstarren, meistens genau in Augenblicken, wenn mir das Leben nicht schnell genug ging. Jetzt endlich kam eine Zeit zum Genießen.
Mein Literaturseminar wurde von einem großen, knochigen Mann in den Vierzigern geleitet, mit einem Vandyke-Bart und braunen Augenbrauen, die ständig zitterten wie Motten. Er begrüßte uns beflissen und erzählte uns von den Herrlichkeiten, die uns erwarteten, von den erstaunlichen Gedanken, den zeitlosen Geschichten, den uralten Sätzen, die so gut verfasst waren, dass sie Weltreiche und Epochen überdauert hatten und noch Jahrtausende aushalten würden. Er sprang von Gedicht zu Drama zu Roman, zitierte auswendig die größten Zeilen und Stellen aus der Göttlichen Komödie, dem Präludium, aus Schall und Wahn – und aus seinem Lieblingswerk Das verlorene Paradies, in dem wir bald Bekanntschaft mit dem Satan schließen würden. Als er besonders traurig über den Verlust des Paradieses und sonderbar bewundernd über den Satan als literarische Figur redete, hatte ich fast den Eindruck, dieser Professor mit seinem spitzen Bart und den pelzigen Augenbrauen könnte sich den Fürst der Finsternis zum Vorbild genommen haben. Ich zeichnete ein Bild von ihm in mein Heft, eine Skizze im Stil der Minuten-Biografien, und darunter schrieb ich: Professor Luzifer.
Wie von Luzifer nicht anders zu erwarten, saß der Professor am Tischende und versuchte unsere Seelen zu ködern. Alles, was wir lesen würden, sagte er mit zwingendem Ernst, ginge auf zwei epische Gedichte zurück, die Ilias und die Odyssee. Dies seien die Sämlinge, aus der die große Eiche der westlichen Literatur gewachsen war und weiter wuchs, um ihre Zweige über jede neue Generation auszubreiten. Er beneide uns, sagte er, weil wir diesen beiden Meisterwerken zum ersten Mal begegneten. Jedes Gedicht, obwohl bereits vor fast dreitausend Jahren geschrieben, sei genauso frisch und bedeutend wie eine Geschichte in der aktuellen New York Times. »Warum?«, fragte er. »Weil jedes ein zeitloses Thema anpacke – die Sehnsucht nach einem Zuhause.« Ich schrieb in mein Notizbuch: »Anpacken – gutes Wort.« Als ich sah, dass meine Schrift nicht besonders schön war, strich ich es durch und schrieb es noch einmal ordentlicher.
Mir gefiel, wie Professor Luzifer bestimmte Wörter aussprach, vor allem das Wort »Gedicht«. Immer wenn er »Gedicht« sagte, legte er seine knochige rechte Hand auf die zerfledderten Gedichtausgaben, wie ein Zeuge, der auf die Bibel schwört. Obwohl seine Bücher mit ihren dunklen, senfgelben Seiten doppelt so alt waren wie ich, konnte ich sehen, dass sie liebevoll aufbewahrt, vorsichtig behandelt und akkurat unterstrichen waren.
Als erste Aufgabe sollten wir die halbe Ilias lesen und dann
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