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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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wegrollten, schaute ich aus dem Fenster und machte mir Vorwürfe, weil ich meine Mutter im Stich ließ. Im entscheidenden Augenblick unseres Abschieds hatte ich ihr nichts Tiefsinniges gesagt. Wenn ein Augenblick jemals Tiefsinnigkeit verlangt hatte, dann der Abschied von meiner Mutter, und ich hatte ihn verpatzt. Noch mehr aber schämte ich mich für den Grund: Wie es aussah, war ich nicht traumatisiert genug. Ich freute mich auf mein neues Leben, und das hieß, ich war ein undankbarer Mensch und ein schlechter Sohn. Ohne die geringsten Schuldgefühle ließ ich meine Mutter zurück und winkte ihr zum Abschied munter über die Schulter zu.
    Kurz nach dem Start wurde mir klar, warum mich das Abschiednehmen nicht traumatisierte: Ich hatte mich seit dem elften Lebensjahr immer wieder von meiner Mutter verabschiedet. Indem sie mich nach Manhasset schickte und drängte, mit Onkel Charlie und den Männern Freundschaft zu schließen, hatte sie mich Schritt für Schritt von sich entwohnt, und sie sich von mir. Vielleicht waren es die am Flugzeugfenster vorbeischwebenden Schäfchenwolken, die mich das begreifen ließen. Meine Mutter hatte auf subtile, heimliche Weise jeden Sommer ein Stück von sich abgeschnitten.
    Danach musste ich mit allen Kuscheldecken allein fertig werden. Und keine war sicherer oder erdrückender als Steves Bar.

 

TEIL II
     
     
     
    Durch Fehler, sagt man, sind die besten Menschen
    Gebildet, werden meist um soviel besser,
    Weil sie vorher ein wenig schlimm.
     
    – William Shakespeare, Maß für Maß

 
     
     

21 | DER TEUFEL UND MERRIAM WEBSTER
     
     
    Der Taxifahrer stellte meine Koffer auf den Randstein vor dem Phelps Gate. Überall waren Familien, und er sah sich nach meiner um, als hätte ich noch eine gehabt, als ich an der Union Station einstieg, und auf dem Weg zum Campus wäre sie verloren gegangen.
    »Ganz allein?«, fragte er.
    »Ja.«
    »Soll ich beim Tragen helfen?«
    Ich nickte.
    Er packte einen meiner Koffer und wir gingen nebeneinander unter einem hohen Torbogen hindurch, in einen langen dunklen Tunnel, auf das helle weitläufige Grain des Old Campus zu. Selbst der Eingang von Yale, dachte ich, zielt darauf ab, die hochgesteckten Erwartungen an den Ort zu wiederholen und zu symbolisieren – Dunkelheit, die dramatisch dem Licht weicht.
    Wir erkundigten uns, wo Wright Hall lag, ein hundert Jahre altes Wohnheim, das nicht viel stabiler wirkte als Opas Haus. Mein Zimmer befand sich ganz oben im vierten Stock, und ich war nicht der Erste. Einer meiner drei neuen Kommilitonen packte mit Hilfe seiner Eltern und Schwestern Unterwäsche aus. Wir gaben uns die Hand, während sich seine Mutter auf den Taxifahrer stürzte. »Sie sind sicher auch sehr stolz!«, rief sie. »An so einem Tag ist es wirklich fantastisch, Kinder zu haben, nicht wahr?«
    Nervös lüftete der Taxifahrer seinen Hut und schüttelte der Mutter die Hand. Sie stellte sich und ihren Mann vor, und bevor sie ihn fragen konnte, ob er den Sommer lieber auf Martha’s Vineyard oder Cape Cod verbringe, gab ich ihm sein Geld und dankte ihm.
    »Oh«, sagte die Mutter. »Ich wusste nicht …«
    »Viel Glück«, sagte der Taxifahrer zu mir, lüftete wieder den Hut und ging rücklings zur Tür hinaus.
    Alle sahen mich an. »Bin heute solo geflogen«, sagte ich.
    Die Mutter bedachte mich mit einem falschen lächeln. Mein Sohn wohnt mit diesem Vagabunden zusammen? Die Schwestern legten wieder Unterhosen zusammen. »Sag mal«, meinte mein neuer Zimmergenosse, darum bemüht, die Spannung zu lösen. »Wofür steht eigentlich JR?«
    Ein zweiter Zimmergenosse kam mit seinen Eltern durch die Tür, gleich dahinter ein Chauffeur, der zusammenpassendes Designergepäck schleppte. Es wurde einander vorgestellt. Der Vater des zweiten Zimmergenossen, ein eleganter Mann mit stechendem Blick, trieb mich in die Enge und bombardierte mich mit Fragen. Woher kam ich? Welche Highschool hatte ich besucht? Dann wollte er wissen, was ich den ganzen Sommer über getrieben hatte. »In einer Anwaltskanzlei in Manhattan gearbeitet«
    »Welche Kanzlei?«
    Ich sagte ihm den Namen. Keine Reaktion. »Ist eine kleine Kanzlei«, sagte ich. »Vermutlich haben Sie noch nie davon gehört.« Er runzelte die Stirn, konnte mir nicht folgen. Ich versuchte mich zu fangen. »Wobei sich die Partner vor einigen Jahren von einer viel größeren und angeseheneren Kanzlei getrennt haben.«
    Das stimmte. Als der Vater jedoch fragte, von welcher größeren Kanzlei, hatte ich

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