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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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verzaubert war ich vom Erzähler. Ich dachte immer, Onkel Charlies emotionale Bandbreite beschränke sich auf melancholisch bis missmutig, außer an den Abenden, wenn er wutentbrannt aus der Bar nach Hause kam. Jetzt aber, am frühen Abend in der Bar, umgeben von Freunden und aufgedreht vom ersten Drink, war er ein völlig anderer Mann. Redselig. Charmant. Fähig, mir seine Aufmerksamkeit zu schenken, wie ich es mir jahrelang von ihm gewünscht hatte. Wir unterhielten uns eine ganze Weile, länger als jemals zuvor, und ich stellte staunend fest, dass sogar seine Stimme anders klang. Seine gewohnte Bogart-Imitation schwenkte manchmal auf etwas Reiferes, Vielschichtigeres um. Er benutzte ein unglaubliches Gemisch aus hochgestochenen Wörtern und Gangsterslang, und er artikulierte genauer, mit einem noch satteren Zungenschlag. Er redete gewählt wie William F. Buckley und vulgär wie Häftlinge in Zellenblock C.
    Der einzige Nachteil an diesem neuen Onkel Charlie war, dass ich ihn teilen musste. Mein krankhaft gehemmter, halbwegs zurückgezogener Onkel Charlie war, wie ich an diesem Abend feststellte, im Innersten ein Selbstdarsteller mit einer treuen Gefolgschaft. Und er zog eine gut einstudierte Show ab, deren Herzstück eine herrliche Unverschämtheit war. Er sagte Gästen, sie sollten still sein, endlich die Klappe halten, sich gefälligst zurückhalten, immer die Ruhe bewahren. Einmal dachte ich, er würde jemandem gleich Mineralwasser aus der Flasche ins Gesicht spritzen. Gab es richtig viel zu tun, konnte es passieren, dass Onkel Charlie zu einem Gast sagte: »Das Wichtigste und Schönste, was wir in einer zivilisierten Gesellschaft tun können, ist – geduldig warten, bis wir an der Reihe sind.« Dann widmete er sich wieder der Unterhaltung, die er gerade mit seinen Freunden führte, erklärte ihnen, warum Steve McQueen ein echter Filmstar war oder erläuterte ihnen die Feinheiten und Vielschichtigkeit in den Gedichten von Andrew Marvel. Manchmal wollte die Hälfte der Gäste etwas bestellen, während er der anderen Hälfte das Gedicht »An seine spröde Geliebte« rezitierte. Es war eine Darbietung, und Onkel Charlie war durch und durch Schauspieler. Einer aus der Stanislawski-Schule. Bevor er einen Drink mixte, sah man förmlich, wie er sich fragte: »Was mache ich hier eigentlich – wo liegt meine Motivation?« Je methodischer er wurde, umso ungeduldiger wurden manche Gäste, woraufhin er noch methodischer und noch unverschämter wurde, was seine Fans in der Bar wiederum veranlasste, zu jubeln und ihn anzustacheln.
    Als Schauspieler konnte Onkel Charlie sich unverzüglich und mühelos in einen Prediger, Alleinredner, Kuppler, Buchmacher, Philosophen oder Provokateur verwandeln. Er spielte viele Rollen, zu viele, um sie festzuhalten, aber meine liebste war die des Maestros, und die Musik, die er dirigierte, war die Unterhaltung an der Bar. Sein Taktstock war eine Marlboro Red. Wie alles, was er im Publicans machte, rauchte Onkel Charlie auch mit einem Hauch von Theatralik. Er hielt eine nicht angezündete Zigarette extrem lange in der Hand, bis sie sich in den Köpfen seines Publikums eingeprägt hatte. Dann riss er mit großspuriger Geste ein Streichholz an und hielt die Flamme an die Zigarettenspitze. Der nächste abgerundete Satz aus seinem Mund wurde von einer Rauchwolke umhüllt. Dann, wenn er die Asche abtupfte – tap, tap – beugten sich alle vor und sahen genau zu, so als klopfe Willie Mays mit seinem Schläger auf die Home Plate. Gleich würde etwas Interessantes passieren. Zum Schluss, wenn er das abgebrannte Streichholz mit einem leichten Plink in den gläsernen Aschenbecher fallen ließ, lieferte er die Pointe oder kam zum entscheidenden Punkt, und ich hätte am liebsten »Bravo!« gerufen.
    Onkel Charlie war mit der Newley-Geschichte und meinem Martini gleichzeitig fertig. Er schob mir das Glas zu. Ich nippte. Er wartete. Fantastisch, sagte ich. Er lächelte, ähnlich einem Sommelier, der meinen Gaumen für gut befand, dann glitt er davon und bediente drei Männer in Anzügen, die eben eingetreten waren.
    Bevor ich noch einen Schluck trinken konnte, hörte ich eine Stimme hinter mir. »Junior!« Ich erstarrte. Wer außer meinem Vater oder meiner Mutter kannte meinen heimlichen Namen? Ich wirbelte herum und sah Steve, die Arme vor der Brust verschränkt, Stirn in Falten gelegt, wie Sitting Bull auf dem berühmten Foto. »Was soll ich davon halten? Du trinkst? In meiner Bar?«
    »Ich bin

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