Tenebra 1 - Dunkler Winter
Vor uns war der Gebirgskamm eingekerbt, als hätte ein Gott mit gewaltiger Axt eine Kluft in das Rückgrat der Berge geschlagen. Zu beiden Seiten dieses Einschnitts erhoben sich die Gipfelaufbauten aus dem Gebirgskamm; aber zwischen ihnen war eine Scharte aus dem Kamm selbst herausgebrochen und bildete den schmalen Sattel des Passüberganges. Schnee bedeckte die Gipfel und reichte weit die Bergflanken herunter, aber noch nicht tiefer. Der Übergang war weiterhin offen.
An diesem Abend lagerten wir auf einer Bergmatte am Rand eines rauschenden Wildwassers. Im trüben Morgengrauen sah ich Eis am steinigen Ufer des Gebirgsbaches, wo Gischtspritzer auf den Felsen über Nacht zu einem glasigen Überzug gefroren waren, und das Gras unserer Bergwiese war bereift. Das hinderte Schwester Winterridge nicht daran, sich selbst und einige Kleidungsstücke zu waschen. Die Sonne ging auf, war aber noch hinter dem Höhenzug im Norden verborgen, und die Tageswärme ließ auf sich warten. Ein hoher, feiner Dunst überzog den Himmel; der gleiche Dunst hatte in der Nacht schon die Mondsichel verhüllt, sodass sie einen Lichthof gezeigt hatte. Mein Vater sagte immer, dass es ein Vorzeichen schlechten Wetters mit Regen und Kälte sei. Wir hatten zwei Tage Frist bekommen.
Als ich Wasser für unser Frühstück holte, kniete Schwester Winterridge am Bach und bearbeitete eine Hose und ein Hemd mit Kernseife und Bürste. Ihre langfingrigen Hände waren von der Arbeit und dem kalten Wasser gerötet. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihr zunicken und guten Morgen wünschen oder eine ähnlich förmliche und reservierte Geste machen sollte. Nach dem Vorfall bei dem Bauern war mir klar geworden, dass ich sie kaum kannte.
Aber sie kam mir zuvor.
»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Will«, sagte sie ohne Vorrede. »Es tut mir Leid, dass ich mich so schlecht benommen habe.«
Mir blieb der Mund offen. Es war so, als hätte eine Statue im Tempel von Tenabra verkündet, sie bedauere, dass sie in den letzten Jahrtausenden keine Gebete erhört habe. Ihr Gesichtsausdruck war unverändert geblieben: ernst, kühl, mit einem hochmütigen Zug um den Mund. Sie sah jedenfalls nicht besonders reumütig aus. Mehr wie ein Kind - ein lang aufgeschossenes, mageres, ernstes Kind, das sich bei einem fetten alten Onkel entschuldigen muss, weil es ihm gesagt hatte, er sei alt und fett.
Es kostete mich einen Augenblick, aber dann konnte ich verstehen, wie schwer es ihr fiel. Ich murmelte etwas, was als freundliche Aufnahme gedacht war, aber halb unverständlich herauskam. Sie hatte nicht aufgehört, an ihren Kleidern zu schrubben.
Und später sagte sie das gleiche zu uns allen.
»Hören Sie, es ist nicht nötig…«, begann Silvus.
»Ich denke, es ist nötig, Ser de Castro«, sagte sie. »Und so denkt auch die Eine, der ich diene, wenn ich sie richtig verstehe. Ich war im Irrtum und bedauere es. Wenn der Mann und seine… Familie hier wären, würde ich das gleiche zu ihnen sagen. Vielleicht werde ich es eines Tages auch noch tun. Aber nun müssen wir weiter.«
Wir folgten dem Karrenweg höher ins Bergland, der Passhöhe entgegen, die in der klaren Höhenluft scheinbar zum Greifen nah, immer wieder zurückzuweichen schien. Die Steigung nahm zu. Der Karren wurde doppelt, dann dreifach bespannt, und wir führten unsere Pferde. Silvus war schweigsam geworden, seine Züge von Erschöpfung gezeichnet. Wenn er sich aufraffte, etwas zu sagen, war es ihm offensichtlich wichtig.
»Traum«, sagte er einmal. Unsere Gespräche beschränkten sich auf kurze Bemerkungen. Bedeutung musste durch den Tonfall klargemacht werden.
»Schlimm?«, fragte ich.
»Mmm.«
»Dunkel?«, suggerierte ich.
Er zuckte die Achseln. Wenn der Schlaf kam, war es wie der Absturz in eine schwarze Grube. Sein Alter war Silvus anzusehen; er war grauer und hagerer geworden. Er tat drei Schritte, bevor er wieder sprach.
»Er träumt auch.« Er nickte zu Ruane auf seinem großen Pferd, dem Streitross, das drei Rationen Hafer fraß, die wir ihm nie missgönnten, und das deshalb noch immer imstande war, den Grafen zu tragen. Selbst wenn Ruane wie ein Mehlsack im Sattel hing und stundenlang kein Wort über die Lippen brachte.
»Hm.«
»Hör ihn. Nachts.«
Also schlief Silvus auch nicht allzu gut. Das erklärte einiges. Ich nickte, sparte meinen Atem für den Aufstieg.
»Unruhig«, sagte er.
Ich merkte, dass es ihm Sorgen bereitete. Ein Gedanke kam mir in den Sinn. »Mana?«, fragte ich.
Er zuckte
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