Tenebra 1 - Dunkler Winter
sie heute noch die Baumgrenze. Danach können sie sich überallhin wenden.«
Wieder wurde es still.
»Wir sollten umkehren«, sagte Eumas. Es hörte sich an, als müsste er sich die Worte aus dem Fleisch reißen.
Ruane richtete sich auf. »Noch nicht, denke ich, Ser Eumas«, sagte er. Er war schmutzig, gebeugt, bleich und ähnelte einem wandelnden Leichnam, über seine Kräfte hinaus verausgabt, ausgezehrt und beinahe durchsichtig. Mein Gedächtnis versorgte mich ungebeten mit dem Bild jener Kadaver im Moor. Er blickte zum Himmel auf, schien ermutigt vom weiten Blau, obwohl der zerklüftete Wall der verschneiten Berge alles andere als ermutigend aussah.
»Es ist noch nicht zu spät im Jahr. Der Sturm hat sich gelegt, es könnte Tauwetter einsetzen. Jedenfalls werde ich noch einen Tag warten. Ich werde mein Versprechen halten, selbst wenn ich allein gehen muss.«
Er zitterte. Silvus schaute ihn an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Eumas und Hubert standen still wie Statuen. Schwester Winterridge behielt ihre ausdruckslose Miene. Ich weiß nicht, was ich tat. Ich verstand es nicht. Es kam mir unsinnig vor, dabei aber war es mir gleich. Ich war zu müde, um mich für irgendetwas zu erwärmen.
Wir hatten Brennstoff für einen Tag und Proviant für eine Woche, da wir nun nur noch sieben waren. Wasser war kein Problem. Wir konnten diesen und zwei weitere Tage auf Tauwetter warten. Länger als das, und wir würden am Berg umkommen - in unserem Zustand war die Baumgrenze drei Tagesmärsche entfernt.
Vielleicht würden wir so oder so umkommen. Im menschenleeren Moor- und Heideland östlich der Berge gab es auch nicht viel zu essen.
Das Tauwetter blieb aus. Der Schnee setzte sich und verkrustete und knirschte, wenn man darauf ging, doch meistens trug die Kruste nicht und man brach bis zu den Knien ein. Raol machte sich auf die Suche nach zusätzlichem Feuerholz und brachte Totholz von den Dickichten niedriger Legföhren und Wacholdersträucher, die an geschützten Stellen der Berghänge wuchsen. Das ölhaltige, harzige Holz brannte gut, wurde von den Flammen aber allzu rasch verzehrt. Von seinem zweiten Sammelgang kehrte er jedoch verändert zurück, lebhafter, schlug mit den Armen, um sich warmzuhalten, und klopfte sich Schnee, der von dem großen Feuerholzbündel auf seinem Rücken herabfiel, von den Schultern. Ich dachte, wie nordisch er aussah, dick vermummt in seinem derben Wollzeug und mit bereiftem Bart.
»Da oben ist ein Loch im Berg«, verkündete er, als er bei uns ankam. »Eine Höhle. Schmaler Eingang, geht aber tief hinein.«
Silvus grunzte. Niemand sonst blickte auf. Wir hatten aus der Plane eine Art Zelt um den Karren aufgespannt und eine Herdstelle gebaut, um Brennmaterial zu sparen und dem Feuer Windschutz zu geben. Es lagen genug Steine herum, aber die Anstrengung hatte uns erschöpft. Der nächste Tag würde der Letzte sein. Danach mussten wir umkehren. Ich dachte an unseren ungesehenen Gefährten, der uns von Tenabra bis hierher gefolgt war. Wir durften nicht in dieser Einöde sterben.
Raol wurde ungeduldig.
»Hört denn niemand?«, fragte er gereizt. »Dort gibt es eine Höhle.« Und als noch immer keine Antwort kam: »Höhlen sind warm.« Er blinzelte in die blendende Weiße. »Jedenfalls wärmer als dies hier.«
Warm? Das erregte einiges Interesse. Schwester Winterridge kam etwas mühsam auf die Beine. Eumas und ich folgten ihrem Beispiel, dann die anderen.
»Wo?«, fragte sie.
Raol grinste. »Endlich«, sagte er. »Folgen Sie mir, Damen und Herren.«
Die steinige, jetzt eingeschneite Wiese, wo wir gelagert hatten, war nicht wirklich eben. Es schien nur so, verglichen mit den Berghängen ringsum. Wir stiegen den Hang hinauf, über Schnee und freigewehte Flecken Erde, die vom Frost körnig war, über eine gefrorene Schneewehe, ein wenig abwärts, dann in eine Mulde im kahlen Hang. Man konnte sehen, warum Raol hierher gekommen war. Sie wirkte geschützt, sodass sich Krummholz halten und vielleicht Brennmaterial liefern konnte. Tatsächlich fanden sich in der Mulde neben Pflanzenpolstern inselartig niedrige Wacholdersträucher und Legföhren. Dahinter aber klaffte ein Spalt im anstehenden Fels: schmal und vielleicht drei Fuß hoch.
Schwester Winterridge steckte den Kopf hinein, wandte sich um. »Es ist eine Höhle. Ein größerer Raum liegt dahinter, und ich spüre Luftzug. Es ist wärmer als draußen.«
Also zurück zum Karren, um Werkzeug zum Erweitern des Eingangs und Licht zu holen.
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