Tenebra 1 - Dunkler Winter
übergingen, war ein undeutlicher dunkler Fleck auszumachen, eine Andeutung von rechten Winkeln und der Eindruck, mehr gefühlt als gesehen, von rauchiger Verfärbung der Luft darüber.
»Stadt und Festung Ys«, sagte Schwester Winterridge mit seltsamer Betonung. Wie jemand, der ein Wort sagt und findet, dass es nicht genau das war, was er meinte.
»Wie weit ist es?«, fragte ich nach einer Pause.
Sie schien ein wenig zerstreut, antwortete aber bereitwillig genug. »Diesen und noch einen vollen Tagesmarsch. Heute Nacht werden wir Quartier beziehen.«
Ich prüfte den Sonnenstand. Der Nachmittag war erst halb um. Ein weiterer Tagesmarsch nach diesem, das ergab zehn, vielleicht zwölf tenabrische Meilen. Und doch war ich überzeugt, dass man aus dieser Höhe bei klarem Wetter die Türme der Festung sehen konnte.
»Es muss eine große Stadt sein«, sagte ich, während ich mit zusammengekniffenen Augen den rauchigen Fleck am Horizont beobachtete.
»Ja«, antwortete sie, ohne weiter darauf einzugehen. Ich sah sie aus den Augenwinkeln an. Ihre Stimmung vom Gesicht abzulesen, war nie einfach, und ich hatte auf diesem Gebiet keine Erfolge zu verzeichnen. Dennoch deutete gerade der unbeteiligte Ton ihrer Antwort auf etwas hin. War es Abneigung gegen die Stadt Ys? Vielleicht Missbilligung von Städten überhaupt? Jedenfalls wollte ich mehr darüber wissen.
Ich blickte umher. Silvus und Eumas ritten zehn Schritte voraus, und von ihnen hatte ich den ganzen Tag wenig gehört. Wir füllten eine Lücke zwischen zwei Fuhrwerken im rückwärtigen Teil der Kolonne. Hinter uns kam das letzte Fuhrwerk, dann ein weiterer Abstand zur Nachhut, die aus sechs Ordensschwestern mit Bogen bestand.
Sie war nach ihrer einsilbigen Antwort still geblieben. Wenn ich nicht ein wenig bohrte, würde ich nichts weiter aus ihr herausbekommen. Aber als ich überlegte, wie ich es anfangen sollte, rollte das Fuhrwerk vor uns an Merceda vorbei, die ihr Pferd am Wegrand gezügelt hatte und die Kolonne vorbeiließ. Als der Wagen vorbei war, lenkte sie ihr Pferd neben Eumas und Silvus.
»Ist sie so groß wie Tenabra?«, fragte ich.
»Glaube ich nicht«, antwortete Schwester Winterridge. »Tenabra hat vielleicht weniger Handelsleute und achtbare Bürger, aber es kennt sicherlich viel mehr Beutelschneider und Dirnen.«
Die Priorin des Ordens der Siegesgöttin hatte die Antwort gehört und brach in Gelächter aus.
Schwester Winterridge hatte wie gewöhnlich in kühlern, unbeteiligtem Ton geantwortet. Ich widerstand der Versuchung ihr mit einer passenden Bemerkung zu entgegnen. Schließlich hatte ich nur geschworen, Tenabra mit Waffen zu verteidigen. Niemand hatte etwas davon gesagt, dass ich mich auch zum Anwalt der Stadt machen müsse. Überhaupt hatte sie wahrscheinlich Recht. Hauptsache, sie redete weiter.
»Was für ein Ort ist es? Die Stadt Ys, meine ich.«
»Eine Stadt«, erwiderte sie, und wenn eine Stimme Gleichgültigkeit vermitteln konnte, dann tat es die ihre. Aber die Priorin war mitteilsamer. Sie wandte sich im Sattel um.
»Die Stadt nahm ihren Anfang als Siedlung für die Erbauer der Festung«, sagte sie. »Und sie stellt noch immer die Arbeitskräfte zur Verfügung, die zur Erhaltung und Instandsetzung benötigt werden. Der Tanana - das ist der Fluss im Norden, von uns auch Strom der Göttin genannt - mündet dort in den Westlichen Ozean, und in der Stadt Ys gibt es eine Brücke. Man kann den Fluss dort überqueren oder einen Umweg von zehn Meilen stromauf zum nächsten Übergang machen.«
»Ein naturgegebener Ort für eine Siedlung.«
»Ja. Allerdings gab es dort nichts, bevor der Orden zu bauen begann. Die Flussmündung erweitert sich zu einer Bucht und Füßen der Festung liegt der Hafen.«
»Aber es gibt wenig Handel«, fügte Schwester Winterridge hinzu. »Mit wem sollte man handeln? Drüben in Ctersi ist nur das Dunkel.«
Mit wem? Wenn Schwester Winterridge ihre eigene Heilkundige gefragt hätte, würde sie vielleicht mehr erfahren haben, als sie wissen wollte. Merceda lächelte mild. Vielleicht, dachte ich bei mir, wussten die Leiterinnen des Ordens mehr, als sie sagten.
»Also gibt es einen Landeplatz für das Dunkel, wenn es mit seiner Flotte vor der Küste aufkreuzt?«, fragte ich.
Mercedas Lächeln verstärkte sich ein wenig. »Schwerlich. Die Flussmündung ist durch eine Bronzekette gesperrt, deren Glieder Schenkeldicke haben, und der gesamte Hafen mit den Ankerplätzen befindet sich im Wirkungsbereich der
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