Tenebra 1 - Dunkler Winter
Gedanke. Im Weiterreiten beschäftigte ich mich damit.
Die Perspektive veränderte sich, als wir die Vorberge verließen. Die Ebene kam uns entgegen, die Ausläufer der Berge blieben wie eine Reihe von Vorposten hinter uns zurück. Die Straße wurde breiter, der Verkehr auf ihr nahm zu, aber nur in der Gegenrichtung. Alles strömte aus der Stadt ins weitere Umland. Nicht in Panik; das hatte ich früher gesehen, wenn ganze Bevölkerungen vor anrückenden Armeen flohen. Dies war nicht das Gleiche. Es lagen keine Toten und Sterbenden an den Straßenrändern, keine zurückgelassene, auf der Flucht hinderliche Habe, obwohl am Horizont der Unheil verkündende Rauch der brennenden Stadt stand. Soldaten der Stadtwache ritten hin und her und sorgten dafür, dass alles geordnet verlief, die Leute zusammen blieben und eine Straßenseite für den Gegenverkehr freihielten. Männer und Frauen gingen, alte Leute und Kinder saßen auf den Fuhrwerken, aber kein Fahrzeug war überladen und die Zugtiere schienen in guter Verfassung. So zogen die Kolonnen an uns vorüber, ohne viele Worte, die Blicke auf die Vorberge gerichtet, die Gesichter grimmig, aber nicht ängstlich. Ich sah kleine Kinder weinen, vermutete aber, dass nicht der Verlust ihrer heimatlichen Umgebung der Anlass ihrer Tränen war, sondern die Unbequemlichkeiten und Einschränkungen der Reise.
Schwester Winterridges Züge wirkten angesichts der Kolonnen noch verschlossener als sonst, mit schmalen Lippen und deutlich abgezeichneten Backenmuskeln, wie es bei einem tapferen Mann der Fall ist, wenn der Chirurg zum Messer greift. Das Gesicht der Priorin zeigte keine Regung. Sie blickte mit steinerner Miene geradeaus, so wie Silvus, der stocksteif und mit blutleeren Lippen im Sattel saß.
Als der Abend kam, waren wir zwischen Feldern und Hecken, und die frühe Dunkelheit brach herein.
Schwester Winterridge zügelte ihr Pferd. »Cordel«, verkündete sie. Es war ein weiteres Dorf, diesmal an der Mündung des Flusses, dem wir gefolgt waren, in den Tanana. Nur ein paar Lichter waren zu sehen. War es noch zu früh? Nein. Als wir in das Dorf ritten, wurde klar, dass die meisten Bewohner es verlassen hatten. Aber es besaß eine Herberge. Der Orden unterhielt sie an allen Hauptstraßen in Abständen von einer Tagesreise. Eine Herberge, als Teil ihrer Steuern von der Gemeinde unterhalten.
Wer sich unter diesen Herbergen Gasthäuser der üblichen Art vorstellte, mit Pferdeknechten, einer warmen Gaststube, Speisen und Getränken nach Wahl und Zimmern mit ordentlichen Betten, sah sich allerdings getäuscht. Sie glichen eher Kasernen. Ein kalter Schlafsaal mit Strohsäcken, eine Küche mit sauber geschrubbten Kesseln und einem Brennholzvorrat. Keine Lebensmittel irgendwelcher Art. Wir mussten mit unserem mitgebrachten Proviant vorlieb nehmen. Ich versorgte mein Pferd, aß und schlief; für mehr reichte die Kraft nicht.
Als wir am nächsten grauen Morgen sattelten und weiterzogen, waren ein paar Dorfbewohner zu sehen. Jemand erneuerte den Brennholzvorrat, eine Gestalt in einem grauen Umhang und dicken Fausthandschuhen. Über Nacht war der Frost gekommen, hatte alles mit Reif überzogen, und feuchter Dunst hing über dem still dahin ziehenden dunklen Wasser des Flusses. Die Pferde stampften und bliesen dampfenden Atem aus den Nüstern, als wir sie aus dem Stall führten. Wir bespannten die Fuhrwerke, und als sie vom Hof rollten, saßen wir auf und folgten ihnen. Vom Pferd nickte ich dem Holzhacker zu. Er nickte mit einer einzigen knappen Kopfbewegung missmutig zurück und hob die Axt über den Kopf. Dann schlug er zu und spaltete den Klotz mit einem sauberen Axthieb. Die stählerne Klinge war das Einzige, was an diesem düsteren Morgen hell glänzte.
Sehr hell. Eine saubere, scharfe Schneide, keine Scharten und kein Rost daran. Guter Stahl, diese Axtklinge. Besser als man sie in der durchschnittlichen Dorfschmiede finden würde, sogar im wohlhabenden Land an den Ufern des Wydem. Vielleicht stand die Schmiedekunst hier in schönerer Blüte. Oder vielleicht hatte man die Axtklinge nur eines schönen Morgens draußen an einem Berghang gefunden.
Die Priorin sagte etwas zu dem Holzhacker. Der machte ein verlegenes Gesicht, hörte auf zu arbeiten und entfernte sich mit schleppenden Schritten. Ich konnte mir denken, was gesagt worden war. Brennholz wurde nicht mehr benötigt. Wir waren die letzte Gruppe, die in der Herberge genächtigt hatte - tatsächlich hatten wir uns verspätet. Es war
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