Tenebra 2 - Dunkle Reise
bewegt noch gesprochen.
Natürlich war ich ein Idiot – gewesen. Wieder. Ich hätte mich auf Barras stürzen sollen, nicht auf diesen armen Teufel im Graben. Das war meine einfache Pflicht gewesen, und es hätte für Arienne keinen Unterschied bedeutet.
Ich schuldete Silvus mein Leben und meine Unterstützung, und wieder hatte ich mich von blinder Wut überwältigen lassen. Das Einzige, das zu meinen Gunsten gesagt werden konnte, war, dass ich mich wenigstens enthalten hatte, einen hilflosen Mann niederzumachen. Die Stimme der Priorin Winterridge oder der Name der Göttin hatten mich vor der Untat bewahrt. Oder etwas anderes.
Langsam ritten wir hinauf zum Burgtor, und ich nahm die Geschäftigkeit und den Lärm um mich her wie durch einen Nebel und einen langen Tunnel wahr. Ich erinnerte mich nicht, dass die Sperrfeste so aussah. Bei meinem letzten Besuch war sie bloß eine Burg gewesen, der felsige Ausläufer, auf dem sie stand, kahl und öde, der Burghof sauber gefegt und leer, die zinnengekrönten Mauern und der düstere Bergfried drohend über dem Tal. Eine Festung, nicht mehr und nicht weniger.
Nun schien sie der beschützende Mittelpunkt eines belebten kleinen Marktes zu sein. Zelte waren außerhalb der Burgmauern aufgeschlagen, wo das Gelände es zuließ, und im Tal, wo die Schwestern ihren Übungsplatz gehabt hatten, waren Lagerschuppen und Hütten errichtet worden. Die alten Mauern überblickten eine Menge von Fuhrwerken und Karren, zwischen denen wir uns den Weg suchen mussten. Der Burghof war voll von jungen Männern und Frauen in Paaren und Gruppen, die Säcke trugen, Schubkarren beluden, Listen überprüften und über Werkzeugkisten verhandelten. Zurufe flogen hin und her. Warteschlangen hatten sich vor halb offenen Ständen gebildet, wo geplagte Schwestern Stoffe und Säcke mit Saatgut, Krämerwaren und Ausrüstungen aller Art ausgaben. Aus einer Schmiede drangen helle Hammerschläge. Außerhalb der Mauern wurden Pferde, Esel und Rinder in notdürftigen Einfriedungen von Stallknechten versorgt und vermischten ihre Stimmen mit dem allgemeinen Lärm.
»Morgen ist der Tag der Abreise«, sagte Priorin Winterridge. »Ich fürchte, meine Herren, dass Sie uns im Hemd überrascht haben.« Ihre Miene hatte sich nicht verändert, aber von der Seite sah ich das kaum wahrnehmbare Augenzwinkern, das verriet, dass Priorin Winterridge gerade einen Scherz gemacht hatte. Wie bei all ihren Scherzen fand sie es ausreichend, dass sie es wusste, wenn die anderen es schon nicht merkten. Aber die Schwestern waren ihren Humor offenbar gewohnt. Ich sah, wie zwei von ihnen einander zulächelten.
»Sie wollen jetzt aufbrechen, in dieser Jahreszeit?« Silvus musste es immer wissen.
Die Priorin lenkte ihr Pferd um einen Stapel von Fässern mit Nägeln. »Ja. Das gibt uns Zeit, Land aufzuteilen und Buschwerk und Gestrüpp zu roden, solange es schneefrei ist, und Häuser zu errichten und sturmfest zu machen, da wir wissen, welche Verhältnisse der Winter bringen wird. Das Konklave meinte – und ich stimme dem zu –, dass die Menschen diese Vorräte während des Winters so oder so verspeisen würden. Unter diesen Umständen können sie genauso gut ihre neuen Bauernstellen für den Pflug vorbereiten, um im Frühling mit der Bestellung und Aussaat zu beginnen.«
»Sie besiedeln die westlichen Marken?«, fragte Barras, der die Vorbereitungen mit Kennerblicken beobachtete.
Sie warf ihm einen Blick zu. »Schwerlich so viel, Messire. Hundert landlose junge Paare werden vom Orden unterstützt, leeres Land östlich des Gebirges in Besitz zu nehmen und zu bebauen. Ein paar Stücke Land, die in einer unermesslichen Wildnis urbar gemacht werden.«
Er neigte den Kopf in Anerkennung, aber es war kein Nicken. »Dennoch wäre es gut, sich zu vergewissern, dass das Land tatsächlich Eigentum des Ordens ist, bevor man darüber verfügt.«
»Niemand hat in den letzten tausend oder mehr Jahren Ansprüche auf dieses Land erhoben, Fähnrich Barras. Wir haben es jetzt getan.«
»Ich verstehe. Nun, ohne Zweifel wird seine Hoheit der Fürst der Erweiterung Ihres Grundbesitzes gnädig zustimmen.«
Sie runzelte die Brauen. »Der Fürst des Stromlandes hat nicht die Autorität über uns, zuzustimmen oder zu verweigern.«
Barras lächelte. »Darüber werden wir nicht streiten, Priorin.«
»Das sollte ich meinen.« Sie starrte ihn in offener Herausforderung an. Auch die Schwestern in ihrem Gefolge starrten ihn an, und die Atmosphäre kühlte
Weitere Kostenlose Bücher