Tenebra 2 - Dunkle Reise
Augen, die über den vortretenden Backenknochen größer schienen. Aber ich las darin ihre innere Stärke. Sie nickte und schenkte mir ein Lächeln. Die Berge schienen indessen sehr weit entfernt, und nach diesem kurzen Blick zog sie ihren Rucksack hoch und marschierte weiter. Obwohl sie die zusätzliche Last auf sich nahm, uns bei Nacht zu führen, wollte sie nichts von ihrem Gepäck abgeben, und die Gurte des Rucksacks zogen von früh bis spät an ihren Schultern. Noch eine Woche bis zum Pass, und vielleicht vier bis fünf Tage Marschproviant. Wir hatten uns vorgenommen, unterwegs Nahrung zu suchen, aber dafür war keine Zeit. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass man nur mit Wasser drei Tage marschieren kann. Vielleicht mehr.
Auch Silvus wirkte hagerer, älter und grauer, aber im Laufe der letzten dreißig Jahre hatte er viel Zeit auf dem Marsch verbracht. Er würde durchhalten. Und es entging ihm nicht viel. So verfehlte er das Moorhuhn nicht, das wir ein paar Stunden später aufscheuchten. Er hatte die gespannte Armbrust in der Hand, wartete aber, bis der Vogel niederging und sich umwandte, um zu sehen, ob wir ihn verfolgten.
Arienne beobachtete ihn und den Schuss. Er war so genau und mit ruhiger Hand gezielt, dass das Moorhuhn tot war, bevor es etwas spürte. Sie seufzte.
»Er würde keine Magie gebrauchen, um das zu tun«, sagte ich, um etwaigen Vermutungen zuvorzukommen.
»Nein«, sagte sie, »er gebrauchte nichts von seiner Gabe. Er legte ein Gelübde ab, sagtest du.«
»Ja, seinem Vater, der damals auszog, gegen Nathans Vater zu kämpfen. De Castro Senior kam wie viele andere nie zurück. Also hielt Silvus sein Gelübde. Einmal sagte er zu mir, es sei der einzige Teil seines Erbes, der ihm geblieben sei.«
Sie nickte. Wir gingen langsamer weiter, während Silvus den Vogel holte und zur Straße zurückkehrte. Im Gehen rupfte er das Tier, und Federn trieben im immerwährenden Wind. In einem oder eineinhalb Tagen würde Georghes Fährtenleser-Nordmann sie sehen, und das war mir nur recht. Barras würde wissen, dass wir an diesem Tag eine gute Mahlzeit gehabt hatten.
Wir opferten ein wenig Vorsprung, um das Moorhuhn auszunehmen und an grünen Zweigen über einem kleinen Feuer zu braten. Für jeden ergab es zwei Mundvoll Fleisch, ergänzt durch gekochte Farnwurzeln und einen Hutvoll Heidelbeeren, die ich während der Zubereitungszeit eilig gesammelt hatte. Das war eine Mahlzeit mehr, und eine gute. Jetzt würde es uns vielleicht gelingen, die Rationen zu strecken, bis wir unser Ziel erreichten. Und es gab uns Mut für den letzten Teil des Tagesmarsches, die fünf Stunden Nachtmarsch, geleitet durch die Augen von Eulen.
Wenn man lang genug marschiert und ausreichend müde ist, kann man im Gehen schlafen. Die Nacht nimmt eine unwirkliche Qualität an, und die Landschaft unter dem gefleckten kalten Licht eines zwischen Wolken treibenden Mondes zeigt seltsame Muster. Die bewusste Steuerung der Schritte hört auf, und man bewegt sich mechanisch zum rhythmischen Protest von Muskeln und Gelenken, zum dumpfen Pochen des Pulsschlags in den Schläfen und dem Knarren der Rucksackträger. Ich habe Männer gekannt, die nach einem viertägigen Gewaltmarsch ins Lager kamen und nicht verstanden, dass sie aufhören können zu marschieren. Der Bewegungsablauf wird so sehr Teil ihres Wesens, dass ihnen die Möglichkeit von etwas anderem kaum noch bewusst ist. Sie müssen aufgehalten und zum Ruheplatz geführt werden. Aufgeweckt, im Grunde.
Als das Sternbild des Jägers am Himmel die richtige Stellung eingenommen hatte, die eine Stunde vor Mitternacht anzeigte, hielt Silvus uns an. Wir fanden eine Stelle, wo der Boden eben und ohne Steine war, und entrollten wortlos unsere Betten.
Dann schlafen. Die Nächte wurden kälter, und sehr viel länger konnten wir nicht mit Beeren rechnen. Arienne hatte mich seit jenem Augenblick an der Quelle, wo ich sie verraten hatte, noch immer nicht berührt.
Wir marschierten. Wir marschierten. Wir marschierten.
KAPITEL XIII
KAPITEL XIV
Mit einer Aufstiegshilfe kam Silvus in den Sattel und konnte sich auf dem Pferd halten. Es war meines Wissens das erste Mal, dass er eine brauchte. Mir erging es wie ihm. Arienne lag unter ihrem Umhang auf der Bahre, klein und weiß und schrecklich still. Ich ritt neben ihr, blickte in ihr Gesicht, das kalt und starr wirkte, streng wie ich es nie gesehen hatte, nicht einmal unter den schwierigsten und anstrengendsten Bedingungen. Sie hatte sich weder
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