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Teranesia

Titel: Teranesia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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Flecken übersät, Warnfarben, die ihre Giftigkeit signalisierten. Grant fand Anzeichen auf Blattschäden, die vielversprechend wirkten, aber die Verursacher waren nicht aufzufinden. Wenn die Raupen ihre Strategie geändert hatten und nun eine Tarnung einsetzten, die genauso effizient wie die der erwachsenen Tiere war, wären ihre Bewegungen viel zu unauffällig, um von der Bildverarbeitungssoftware entdeckt zu werden.
    Sie machten mitten im Wald Rast und nahmen ihre Mittagsmahlzeit zu sich, an einer der wenigen Stellen, wo der Boden felsig genug war, um das Dornengestrüpp in Schach zu halten. Prabir traute sich erst, sich zu setzen, nachdem er einen Kreis aus Insektenabwehrmittel auf den Boden gesprüht hatte, denn die Ameisen begnügten sich keineswegs damit, in den Orchideen zu bleiben und auf leichte Beute zu warten. Er hatte keine Ahnung, warum sie nicht auf die Bäume stiegen, um sich Nestlinge zu holen. Vielleicht fehlte ihnen für eine solche Aufgabe eine entscheidende Anpassung, oder es war so, dass sich der Aufwand einfach nicht lohnte.
    »Also lebte Ihre gesamte Familie drei Jahre hier«, sagte Grant. »Seit 2010. Wurde Ihre Schwester auf der Insel geboren?«
    Er lachte. »Wir waren nicht völlig isoliert. Wir sind viermal pro Jahr mit der Fähre nach Ambon gefahren. Und zur Geburt sind wir nach Darwin geflogen.«
    »Trotzdem muss es keine optimale Umgebung gewesen sein, um ein kleines Kind großzuziehen.« Schnell fügte sie hinzu: »Ich will damit keineswegs Ihre Eltern kritisieren. Es beeindruckt mich nur, dass sie es unter diesen Bedingungen geschafft haben.«
    Prabir zuckte die Achseln. »Für mich war es völlig selbstverständlich. Ich meine, die Menschen in den kleinen Dörfern auf den anderen Inseln hatten leichteren Zugang zu Transportmöglichkeiten und Kliniken und so weiter. Aber wir hatten ein Satellitenlink, wodurch es einem leicht fiel, die Entfernungen zu vergessen. Ich bekam sogar Unterricht von einer Schule in Kalkutta. Man hatte einen Service für Kinder in abgelegenen Dörfern eingerichtet, den ich genauso problemlos in Anspruch nehmen konnte.«
    »Also hatten Sie über das Netz wenigstens ein paar Freunde in Ihrem Alter.«
    »Ja.« Prabir rutschte auf dem Felsen hin und her, als ihm plötzlich unbehaglich wurde. »Und wie war es bei Ihnen? Wie haben Sie Ihre Schulzeit verbracht?«
    »Ich? Völlig normal.« Dann schwieg Grant eine Zeit lang, bis sie ihre Kamera hervorholte und damit das Geäst in der Umgebung absuchte.
    »Die Schmetterlinge verbringen sehr viel Zeit hoch oben zwischen den Blättern«, sagte sie. »Vielleicht legen sie auch dort ihre Eier ab.« Sie ließ die Kamera sinken. »Wie gut sind sie im Bäumeklettern?«, fragte sie in beiläufigem Tonfall.
    »Ziemlich aus der Übung.«
    »Es ist wie Fahrradfahren. Man verlernt es nie.«
    Prabir warf ihr einen eiskalten Blick zu. »Sie sind die Feldforscherin, vergessen Sie das nicht. Ich bin der Büromensch. Und es spielt keine Rolle, wie viel älter Sie sind. Sie sind entschieden sportlicher als ich.«
    »Das haben Sie sehr galant formuliert.«
    »Ich mache es nicht!«, erklärte Prabir kategorisch. »Als wir in Ambon handelseinig wurden…«
    Grant nickte energisch. »Schon gut, schon gut! Ich habe nur gefragt, weil ich nicht daran gewöhnt bin, die Stärke der Äste dieser Spezies einzuschätzen. Ich dachte, für Sie wäre es vielleicht einfacher, weil Sie bestimmt als Kind darin herumgeklettert sind. Ich gehe zum Schiff zurück und hole ein Seil…«
    »Ein Seil? Ist das wirklich Ihr Ernst?«
    »Ich hatte ein unangenehmes Erlebnis in Ecuador«, sagte sie. »Ich habe mir zahlreiche Knochen gebrochen. Also bin ich jetzt lieber übervorsichtig.«
    Prabirs Widerstand ließ nach. Hier ging es um ein Prinzip, aber er wollte auch nicht kleinlich und sadistisch werden. »Ich werde es machen, aber Sie müssen mich dafür bezahlen. Zehn Dollar pro Baum.«
    Grant dachte darüber nach. »Sagen wir zwanzig. Dann habe ich ein besseres Gewissen.«
    »Mit einem solchen Gewissen bräuchten wir keine Tarifverträge mehr.«
    Grant suchte einen Muskatnussbaum aus. Prabir zog sich die Schuhe aus und krempelte die Hosenbeine hoch. Er zögerte, weil er nicht recht wusste, wie er anfangen sollte. Der niedrigste Ast dieses Baumes befand sich knapp über seinem Kopf. Früher einmal musste er in der Lage gewesen sein, an einem nackten Baumstamm hochzuklettern, indem er sich mit Armen und Beinen an der Rinde festklammerte – damals hatte er sogar

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