Teranesia
würden Sie ziehen, wenn Sie diese Tiere und Pflanzen sehen?«
Grant verschränkte die Arme.
»Ich lege so lange die Arbeit nieder, bis Sie mir geantwortet haben. Wenn Sie alles vergessen, was Sie über die Geschichte wissen, welchen Eindruck macht diese Insel auf Sie?«
»Ich hätte den Eindruck«, erwiderte sie gereizt, »dass die betroffenen Spezies ursprünglich in einem gemeinsamen Lebensraum existierten. Dann wurden sie auf einer abgelegenen Insel isoliert und haben sich einige Millionen Jahre lang getrennt weiterentwickelt. Und nun werden sie nach und nach wieder eingeführt. Zufrieden? Diesen Eindruck erweckt es. Aber auf welcher Insel soll das geschehen sein?« Sie breitete die Arme aus. »Hier auf keinen Fall, das müssten Sie selbst ohne Schwierigkeiten erkennen. Im gesamten Archipel gibt es keine Insel, die hinreichend isoliert oder unerkundet wäre.«
»Vermutlich nicht.«
»Sicherlich nicht.«
Prabir lachte. »Okay. Eine solche Insel gibt es nicht. Ich will nur darauf hinaus, dass Ihre ›unvoreingenommene‹ Beschreibung wesentlich einfacher klingt als hundert separate Gene, die in hundert separaten Spezies im vollkommenen Gleichschritt in die Vergangenheit zurückmarschieren. Es fällt mir schwer, nicht daran zu glauben, dass uns das der Wahrheit irgendwie näher bringen könnte.«
Grants Gesichtszüge entspannten sich, als ihre Neugier die Oberhand gewann. »Und inwiefern genau?«
»Das weiß ich auch nicht.«
*
Prabir hatte die Bildverarbeitungssoftware umgeschrieben, sodass sie direkt auf Grants Kamera lief. Am Nachmittag entdeckte sie überall in den Bäumen getarnte Fruchttauben.
Im Sucher flatterten die Schmetterlinge zwischen den Tauben hin und her. Die Flügelmuster hatten sich dramatisch verändert – ihre neu erworbene Sprenkelung, die Blätter und Schatten imitierte, war nicht mehr so auffällig und symmetrisch wie früher und variierte viel mehr zwischen den Individuen als die alten konzentrischen Streifen in Grün und Schwarz – doch als Grant endlich ein Exemplar eingefangen hatte und Prabir es aus der Nähe betrachten konnte, wusste er, dass es ein Abkömmling des Insekts war, das er zum ersten Mal aufgespießt im Büro seines Vaters an der Universität gesehen hatte.
Da sich die Betäubungspfeile nicht für Insekten einsetzen ließen, hatte Grant ein Spray mitgenommen, das auf einem Wespengift basierte, mit dem sich die Schmetterlinge vorübergehend narkotisieren ließen, ohne dass sie getötet wurden. Damit ihre Beute nicht den Ameisen zum Opfer fiel, benutzten sie ein Netz, mit dem sie bald ein halbes Dutzend lebender Exemplare der Fruchttauben sowie der Schmetterlinge gefangen hatten.
Auf dem Schiff tötete Grant eine männliche Taube und sezierte sie. Sie entfernte die Testikel und arbeitete dann unter dem Mikroskop daran, die Stammzellen und verschiedene Reifestadien von Spermatozyten zu extrahieren. Sie hoffte, das São-Paulo-Enzym in Aktion zu beobachten, obwohl es angesichts der Uniformität der Tauben unwahrscheinlich war, dass es immer noch radikale Veränderungen im Genom bewirkte.
Prabir ließ sie mit dieser Arbeit allein und ging auf das Deck, um auf die harmlosen Schatten des Dschungels zurückzublicken. Er fühlte sich benommen vor Erleichterung, als ihm bewusst wurde, wie schmerzlos der Tag vergangen war. Zwischen der Beschäftigung mit dem Rätsel der veränderten Spezies und der körperlichen Anstrengung des Sammelns der Proben hatte er nur wenig Zeit und Anlass gefunden, über die Bedeutung dieses Ortes nachzudenken. Und so sollte es eigentlich auch sein. Er hatte bereits um seine Eltern getrauert, im Lager und in Toronto, und er hatte Madhusree tausendmal von ihren Triumphen erzählt. Hier gab es nichts mehr zu tun, nichts mehr zu erinnern, keine Erkenntnisse mehr zu gewinnen, mit Ausnahme des! Geheimnisses der Schmetterlinge. Er verweigerte sich“ der Vorstellung, dass sie auf der Insel gefangen waren. Wenn sie auf irgendeine Weise überlebt hatten, dann hatten sie die Insel mit demselben Boot wie er verlassen.
Obwohl sich Teranesia nicht als gefährlicher als die anderen Inseln erwiesen hatte, war er dennoch froh, dass er Madhusree von hier ferngehalten hatte. In den nächsten Jahren mochte sie ihm immer wieder seine Einmischung vorwerfen. Sie mochte ihm Vorhaltungen machen, dass er sich zwischen sie und die Erinnerung an ihre Eltern stellte. Aber der fremdartige Dschungel hätte für sie noch weniger als für ihn bedeutet, und er hatte ihr die
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