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Teranesia

Titel: Teranesia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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hinüber und setzte sich neben ihn, um den Kopf des Sterbenden in seinen Armen zu halten.
    Kurz vor der Dämmerung schrien Vögel im Dschungel, und zwei Männer mit dichten Bärten in zerlumpter Kleidung kamen zu ihnen.
    »Töten Sie uns nicht«, sagte Prabir. »Er wird niemandem mehr weh tun. Er braucht nur einen Arzt. Er kann noch gerettet werden.«
    Einer der Männer hob Madhusree auf und packte dann Prabirs Schulter, um ihn auf die Beine zu bringen. Der zweite Mann beugte sich über den Soldaten und zog ein Messer. Als Prabir fortgeführt wurde, hörte er einen erstickten Laut, wie von einem Schwimmer, der Meerwasser geschluckt hatte. Er blickte nicht zurück, und nach wenigen Sekunden war es still.



5
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    Das Lager befand sich zehn Kilometer außerhalb von Exmouth, einer kleinen Stadt an der australischen Nordwestküste. Prabir wunderte sich darüber, weil fast jeder im Lager mindestens eintausend Kilometer weiter nördlich an Land gekommen war. Er wusste, dass in Darwin sehr viele Indonesier im Exil lebten, freundliche Menschen, die sich bereits im Land auskannten und bestimmt gerne das Lager besucht hätten, um ihre Landsleuten zu beraten, wenn es nur etwas näher gewesen wäre. Und obwohl die Regierung Rechtshilfe zur Verfügung stellte, damit die Flüchtlinge Asyl beantragen konnten, gab es keine Anwälte in Exmouth, sodass sie alle über große Entfernungen aus Perth oder Darwin anreisen mussten. Da es im Lager nur ein Telefon für zwölfhundert Insassen gab, blieb den Anwälten kaum etwas anderes übrig, als die Reise persönlich zu unternehmen, was wiederum die Zeit verkürzte, die sie tatsächlich an den Fällen arbeiten konnten – nicht zuletzt, weil die Reisekosten durch die gesetzliche Beihilfe jedes Antragstellers gedeckt werden mussten.
    Es dauerte einige Wochen, bis ihm klar wurde, dass der Standort des Lagers aus genau diesen Gründen gewählt worden war.
    Die Guerillas der ABRMS hatten Prabir und Madhusree auf Yamdena abgesetzt, wo eine Chinesin aus Ostjava sich ihrer erbarmt und das Geld für die Schiffspassage gemeinsam mit ihrer Familie gestiftet hatte. Doch die Familie hatte Verwandte in Sydney, die ihre finanzielle Absicherung übernahmen, sodass sie das Lager nach einem Monat verlassen hatten.
    Sechs Monate später hörte Prabir mit, wie ein Sozialarbeiter zu einem Wachmann sagte: »Ich bin sicher, dass wir Adoptiveltern für das Mädchen finden werden; sie ist noch jung und niedlich. Aber ihr Bruder ist ein hoffnungsloser Fall. Sie werden sich noch jahrelang mit ihm herumärgern müssen.«
    Als die Anwälte ihre nächste Expedition in die Wildnis unternahmen, sprach Prabir zum ersten Mal mit einem anderen Menschen als Madhusree, seitdem die chinesische Familie abgereist war.
    »Ich habe es mir anders überlegt«, sagte er. »Ich will kein Asyl beantragen. Wir wollen zur Cousine meiner Mutter in Toronto. Sie heißt Amita.«
    »Eine Cousine? Amita?«, sagte die Anwältin. »Weißt du ihren vollständigen Namen?«
    Prabir schüttelte den Kopf. »Aber sie unterrichtet dort an einer Universität. Man kann sie aus dem Lehrerverzeichnis heraussuchen. Es dürfte kein Problem sein, ihre E-Mail-Adresse herauszufinden.«
    Die Anwältin wirkte nicht sehr überzeugt, aber dann schob sie ihr Notepad über den Tisch zu Prabir hinüber. »Warum versuchst du es nicht einfach selbst?«
    Er starrte auf das Gerät. »Ich kann ihre Adresse heraussuchen, aber könnten Sie dann bitte mit ihr reden?« Prabir war Amita niemals begegnet und hatte bislang kein einziges Mal mit ihr gesprochen. »Ich könnte etwas Dummes sagen und alles verpatzen.«
    *
    Amita und ihr Lebenspartner Keith holten sie vom Flughafen ab und unterschrieben der Sozialarbeiterin eine Bescheinigung, dass sie nun die Verantwortung für sie übernahmen. Madhusree erlaubte ihnen, sie abwechselnd in die Arme zu nehmen und idiotische Grimassen zu schneiden. Prabir hatte ihr stundenlange Vorträge gehalten, dass sie unbedingt einen guten Eindruck machen mussten.
    Dann stiegen sie in den Wagen. Keith fuhr und Amita saß mit ihnen auf dem Rücksitz. Madhusree, die fasziniert von den vielen neuen Dingen während aller fünf Flüge wach geblieben war –, schlief in Prabirs Armen ein. Keith zeigte ihnen die Sehenswürdigkeiten von Toronto und schien zu erwarten, dass Prabir von jedem größeren Gebäude beeindruckt war.
    »Ich habe etwas für dich, Prabir«, sagte Amita. Sie reichte ihm ein kleines Plastikobjekt, das wie ein Hörgerät

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