Teranesia
du komischer Junge. Obwohl die Geschlechtsspezifik aller solcher Texte fließend ist, wirst du zumindest von der Vertrautheit mit den fundamentalen binären Schablonen profitieren, wenn du deine eigenen Erfahrungen zu decodieren und kontextualisieren versuchst.«
Prabir starrte betreten auf die Weinflaschen, die mitten auf dem Tisch standen.
Im Bett lag er stundenlang wach. Er war in einen Kokon aus harten Laken und einer schweren Decke gewickelt. Er brauchte das Bettzeug, weil es kalt war, aber er kam sich trotzdem wie in einer Zwangsjacke vor. Er hatte keine Angst vor den unvertrauten Schatten im Zimmer oder den schwachen Verkehrsgeräuschen; er hatte sich sogar an das nächtliche Husten der Kettenraucher im Lager gewöhnt. Es war kein einfaches Heimweh, weil es sinnlos gewesen wäre: Es spielte gar keine Rolle, wie das Zimmer aussah, und selbst eine vertraute nächtliche Geräuschkulisse hätte ihn nicht trösten können. Ob er nun in seiner Hängematte auf der Insel oder in seinem Bett in Kalkutta gelegen hätte – seine Eltern wären trotzdem tot.
Er beobachtete die schlafende Madhusree. Sie würden niemals das rettende Ufer erreichen, sie würden niemals eine sichere Zuflucht finden. So etwas gab es nicht. All das hatte es nur in seinem Kopf gegeben.
*
Als Keith das nächste Mal im Haus war, nutzte Prabir die Gelegenheit, ihn zu befragen.
»Wie hast du Amita kennen gelernt?«, erkundigte er sich unschuldig. Amita war weggefahren, weil sie irgendetwas erledigen musste, sodass er mit ihm und Madhusree allein im Wohnzimmer war. Seine Schwester spielte entzückt mit dem kleinen Hund, den Keith ihr mitgebracht hatte.
»Es war bei einer Performance in der Stadt«, antwortete Keith zögernd. »Vor zwölf Jahren.« Er runzelte die Stirn, als er sich an Einzelheiten zu erinnern versuchte. »Die Anorexic Androgynes rezitierten das Unabomber-Manifest, mit musikalischer Unterstützung durch die Egregious Beards.« Zur Erklärung fügte er hinzu: »Das war eine Country-Dada-Band, aber sie hat sich vor ein paar Jahren aufgelöst.«
An diesen Dingen war Prabir nicht interessiert; er wollte etwas über die Forscherleidenschaft des Paars hören. »Wie kam es, dass ihr schließlich gemeinsam an der Universität arbeiten konntet?«
»Nun, ich hatte bereits meinen Doktor in X-Akten-Theorie an der UCLA gemacht, und Amita hatte gerade ihren Master in Diana-Studien an der University of Leeds begonnen, per Netz-Studium. Dann eröffnete die Uni Toronto endlich ihren eigenen Fachbereich für Transgressive Diskurse, also lag es auf der Hand, dass wir beide uns um eine Stelle bewarben.«
Als Prabir ihn um eine Erklärung aller Begriffe bat, die er nicht verstanden hatte, verlor er jede Hoffnung. »Und das hat Amita in den letzten zwölf Jahren gemacht?«
Keith lachte. »Nein, natürlich nicht! Das war nur ihr Master; danach hat sie sich weitergebildet. Für ihre Doktorarbeit wählte sie sich ein ganz neues Gebiet: Sie erarbeitete eine interaktive Graphic-Novel-Version von Joseph Conrads Nostromo, als Anwendungsbeispiel der postkolonialen Transliterarisierung. Nostromo wird zu einem Comic-Superhelden in Lycra, der seine Macht verliert, wenn er der Strahlung von Silberbarren ausgesetzt ist. Dadurch wird Conrads höchst ambivalentes Verhältnis zu den ökonomischen Vorzügen des Imperialismus ironisiert und rekontextualisiert, während gleichzeitig auf geschickte Weise der gesamte Mythos des Künstlers als quasigöttlicher Bannerträger der transzendenten Moralität unterminiert wird.«
Prabir fragte sich allmählich, ob Keith sich nur einen ausgeklügelten Scherz mit ihm erlaubte. »Und was studiert sie jetzt?«
Keith lächelte stolz. »Seit vier Jahren arbeitet sie an einem radikal neuen Computer-Paradigma. Bisher ist es ihr noch nicht gelungen, die Geldmittel zu bekommen, um einen Prototyp zu bauen, aber das ist bestimmt nur noch eine Frage der Zeit.«
»Amita hat einen Computer konstruiert?« Jetzt wusste Prabir, dass er auf den Arm genommen wurde. »Wie hat sie die Zeit gefunden, sich auch noch zum Ingenieur ausbilden zu lassen?«
»Oh, sie wird einen Ingenieur einstellen, wenn die Finanzierung gesichert ist.« Keith winkte geringschätzig ab. »Ihr Beitrag ist rein intellektuell. Mathematisch.«
»Mathematisch?«
Keith bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick. »Vielleicht bist du noch etwas zu jung, um es zu verstehen. Weißt du, wie Computer funktionieren, Prabir?«
»Mehr oder weniger.«
»Nullen und Einsen. Du
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