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Teranesia

Titel: Teranesia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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überwältigt. Er konnte es schaffen; es überstieg nicht seine Fähigkeiten. Bald würde er wieder bei seinen Eltern sein – und ganz gleich, ob es Mitternacht oder Morgen war, wenn er sie fand, auf jeden Fall würde es viel früher geschehen, als sie erwarteten. Sie würden ihn mit einem Augenzwinkern um Verzeihung anflehen, dass sie jemals an ihm gezweifelt hatten, dann würden sie ihn in die Arme nehmen, ihn durch die Luft wirbeln und zum Himmel emporheben.
    *
    Seine Hochstimmung hielt bis zum Sonnenuntergang an.
    Bei Tageslicht war alles wie geplant verlaufen. Das Meer war viel rauer, als es an Bord der Fähre wirkte, und bei schlechtem Wetter mochte es einem Selbstmordvorhaben gleichkommen, die Überfahrt in einem so kleinen Wasserfahrzeug zu wagen. Trotzdem herrschte noch musim teduh, die ruhige Jahreszeit, und obwohl das Boot gnadenlos durchgeschüttelt wurde, nahm es kaum Wasser auf. Den richtigen Kurs zu setzen war eine Angelegenheit von Versuch und Irrtum – abgesehen von der Strömung schienen auch die Wellen das Boot abzulenken, wenn es sie kreuzte –, doch als Teranesias Vulkan zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft war, zeigte die GPS-Software, dass sie stetig in südsüdöstlicher Richtung vorankamen, mit etwa zehn Kilometern pro Stunde.
    Nachdem sich Madhusree vom Schock erholt hatte, sich plötzlich auf dem Meer wiederzufinden – ohne Ma, ohne Baba, ohne Fähre voller fremder Menschen und ohne klare Vorstellung, wohin sie unterwegs waren –, ließ sie sich von dieser Erfahrung geradezu in Trance versetzen. Der entzückte Ausdruck auf ihrem Gesicht erinnerte Prabir daran, wie er sich mitten in einem wunderbaren, surrealen Traum fühlte. Ihm war etwas übel, aber ihre Furchtlosigkeit beschämte ihn, sodass er sich zwang, alles mit stoischer Ruhe zu ertragen. Madhusree nuckelte an ihren Flaschen mit Fruchtsaft, aß ein ganzes Paket mit Keksen und benutzte ihr Töpfchen, ohne sich zu beklagen. Prabir hatte keinen Appetit, aber er trank viel Wasser und urinierte über die Bordwand, während Madhusree empört lachte.
    Als es dunkel wurde, verstärkte sich der Wind und die Wellen wurden höher. Madhusree erbrach sich, als Prabir ihr etwas gegen die Kälte überzog, und von diesem Augenblick an wurde ihre Stimmung stetig schlechter. Seine oberflächlichen Wunden schmerzten und juckten; er wollte das Metall in seiner Haut schnellstmöglich loswerden, ganz gleich, ob es eine Gefahr für ihn darstellte oder nicht.
    Als Madhusree in einen unruhigen Schlaf fiel, verspürte Prabir den starken Drang, sie zu halten. Er hob sie auf und wickelte sie in eine Decke, aber es schien unmöglich, gleichzeitig mit einer Hand das Ruder festzuhalten, ohne dass es für sie beide unbequem wurde. Also musste er sie behutsam wieder ablegen. Er beobachtete sie eine Weile und wünschte sich fast, sie wäre wach und könnte ihm Gesellschaft leisten. Aber sie musste schlafen – und wenn er sich ein paar Stunden einsam fühlte, war das ein geringer Preis, um sich vor der jahrelangen Verbannung zu retten.
    Die Finsternis rund um das Boot war undurchdringlich und wurde auch nicht durch die brillante Hemisphäre der Sterne erhellt, aber Prabir hatte nicht das Gefühl, dass handfeste Gefahren im Dunkeln lauern könnten. Die Wahrscheinlichkeit einer Begegnung mit einem Piratenschiff oder anderen Fahrzeugen, die infolge des Krieges unterwegs waren, schätzte er als minimal ein. Bei Tageslicht hatte er mehrere kleine Haie gesehen, doch sie erweckten nicht den Eindruck, dass sie sich für das Boot und seine Insassen interessierten. Und obwohl er wusste, dass das Boot jederzeit auf eine größere Welle stoßen konnte, die es zum Kentern hätte bringen können, hatte es keinen Sinn, sich deswegen Sorgen zu machen.
    Es war das finstere Wasser, das sich bis zum Horizont – und weit darüber hinaus – erstreckte, dessen Leere ihm eine Gänsehaut verursachte. Es gab nichts, das erkennbar gewesen wäre, an das man sich hätte erinnern können. Weder die Monotonie der Aussicht noch das Tuckern des Motors konnten ihn schläfrig machen, da sein ganzer Körper sich der Möglichkeit des Schlafes verweigerte. Doch hier fühlte sich sogar der Wachzustand leer und sinnlos an, da alles fehlte, das das Wachbleiben lohnenswert machte.
    Er blickte auf Madhusree und hoffte, dass sie träumte. Seltsame, komplizierte Träume.
    Der Mond ging auf, gelb und angeschwollen, obwohl er nicht einmal halb voll war. Da sonst nichts zu sehen war, fiel es schwer, ihn

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